Die Bemühungen, die Stahlindustrie in Deutschland zu dekarbonisieren, spalten die Branche derzeit in zwei Lager. Mit einer aktuellen Studie will die Wirtschaftsvereinigung Stahl etwa auf die ökonomischen und ökologischen Risiken hinweisen, die sich durch eine Abwanderung der Stahlproduktion aus Deutschland ergeben. Demgegenüber beklagen die Zulieferer – repräsentiert durch den Industrieverband Blechumformung – eine dramatische Versorgungslage aufgrund von Einfuhrbeschränkungen. Ein Überblick.
Auf dem Weg zur klimaneutralen Wirtschaft komme der Stahlindustrie eine Schlüsselrolle zu, lautet die Meinung der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Mit CO2-armen Produktionsverfahren und nachhaltigen Produkten mache sich die Branche auf den Weg, einen “entscheidenden Beitrag zum Erreichen der Klimaziele” zu leisten. Die Voraussetzung seien politische Rahmenbedingungen, die eine grüne Stahlproduktion zu fairen Bedingungen in Deutschland möglich mache. “Das im Sommer von der Bundesregierung verabschiedete Handlungskonzept Stahl liefert hierfür die richtigen Ansätze, die nun rasch umgesetzt werden müssen”, so der Verband in einem Statement.
Produktionsrückgang von 40 Prozent zu erwarten
Im Auftrag der WV Stahl hat nun das Beratungsunternehmen Prognos jene Risiken analysiert, die entstehen könnten, sollte die Dekarbonisierung der Stahlindustrie ausschließlich durch steigende CO2-Preise forciert werden. So führe eine einseitige Erhöhung der CO2-Preise in diesem Wirtschaftszweig unweigerlich zu einem Rückgang von Produktion und Beschäftigung – insbesondere bei der Primärstahlroute. Konkret sei bei einer nicht international abgestimmten Anhebung jenes Preises in Deutschland bis 2035 ein Produktionsrückgang in Höhe von 40 Prozent zu erwarten. Das wiederum bedeute einen Verlust von rund 200.000 Arbeitsplätzen und rund 114 Milliarden Euro Wertschöpfung, schildert die Studie ein Szenario.
Die Prognos-Studie “Klimapolitische Herausforderungen der Stahlindustrie” stellt die WV Stahl hier kostenlos zum Download zur Verfügung.
Hohe Kosten durch CO2-Verlagerung ins Ausland

“Die einzige Möglichkeit, die klimapolitischen Ziele zu erreichen, ist die Einführung neuer CO2-armer Produktionsverfahren”, Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der WV Stahl (Bildquelle: WV Stahl)
Anlässlich dieser möglichen Entwicklung zeigt sich Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der WV Stahl alarmiert. Er weist auf die “massiven Herausforderungen hin”, denen die Stahlunternehmen in Deutschland und Europa gegenwärtig gegenüberstehen: “Sie werden durch immer ambitioniertere Klimaziele gefordert, ohne dass der notwendige Förderrahmen steht.” Die einzige Möglichkeit, die klimapolitischen Ziele zu erreichen, sei die Einführung neuer CO2-armer Produktionsverfahren. “Gelingt diese Transformation nicht, droht Stahl künftig in anderen Regionen der Welt mit deutlich geringeren Klimaschutzauflagen produziert und anschließend nach Europa importiert zu werden”, warnt Kerkhoff.
Das Resultat: ein Anstieg der globalen CO2-Emissionen. Dessen wirtschaftliche Auswirkungen analysiert Prognos-Experte Dr. Michael Böhmer wie folgt: “Die volkswirtschaftlichen Kosten je ins Ausland verlagerter Tonne CO2 belaufen sich auf durchschnittlich 600 Euro. Dies übersteigt die höheren Produktionskosten eines wasserstoffbasierten Verfahrens um ein Vielfaches.” Daher sei es ökonomisch effizienter, rät Böhmer, “wenn die Politik die betroffenen Stahlunternehmen bei ihrer Transformation zu CO2-armen Produktionsverfahren unterstützt”. Die Transformation müsse umfassend finanziell gefördert und abgesichert werden, wenn Europa seine Vorreiterrolle im Klimaschutz ernst nimmt, fügt Verbandschef Kerkhoff hinzu.
Zulieferer sehen derzeit “Beschaffungskrise”
Die Stahlverarbeiter und -zulieferer indes vertreten eine gegenläufige Meinung. Der Industrieverband Blechumformung (IBU) etwa sieht Stahl – vor allem Flachstahl – derzeit als Mangelware, knapp 90 Prozent der Zulieferer haben Beschaffungsprobleme. Das zeigen erste Ergebnisse einer Blitzumfrage des Verbandes Ende 2020. Weil die geltenden Einfuhrbeschränkungen das Ausweichen auf Stahl aus Drittländern erschweren, befürchtet IBU-Geschäftsführer Bernhard Jacobs demnach: “Auf die Pandemiekrise folgt die Beschaffungskrise.” Ihm zufolge müsse die Marktversorgung in Europa “Vorrang haben vor Anti-Dumping-Maßnahmen und politisch motivierten Importbeschränkungen”.
Die Beschaffungsprobleme beträfen sowohl planmäßig bestellte Mengen als auch Mehrbedarfe. Laut Umfrage haben 86 Prozent der Unternehmen Versorgungsprobleme beim Stahleinkauf über Servicecenter. Auf Platz zwei folgt der Direktbezug bei Stahlherstellern. Beide Bezugsquellen konfrontierten verarbeitende Unternehmen zurzeit mit Lieferzeiten bis weit ins neue Jahr, manche böten Jahresverträge gar nicht mehr an. Als Folge befürchten laut IBU-Erhebung über 70 Prozent der Mitglieder Produktionsunterbrechungen im ersten Quartal 2021. 96 Prozent sehen durch die dramatische Versorgungslage ihre Lieferfähigkeit bedroht. “Teilweise müssen sie bereits jetzt Mengen reduzieren, weil das Vormaterial fehlt”, so Jacobs. “Zusätzlicher Bedarf ist gar nicht oder nur unter großen Mühen zu decken.”

“Auf die Pandemiekrise folgt die Beschaffungskrise”, Bernhard Jacobs, Geschäftsführer des IBU (Bildquelle: IBU)
Stahlangebot wächst langsamer als Nachfrage
Parallel dazu erlebten Einkäufer massive Preisaufschläge. Auch im Vertragsgeschäft sei die Rede von deutlichen Erhöhungen. “Das hat niemand kommen sehen”, registriert auch Andreas Schneider von Stahlmarkt Consult. “Am Ende eines Stahljahres, das lange unter dem Vorzeichen einer großen Krise stand, zeigen die Märkte eine fulminante Aufwärtsbewegung. Stahl- und Rohstoffpreise haben inzwischen nicht nur das Vor-Corona-Niveau übertroffen, sondern langjährige oder sogar historische Höchststände erreicht.” Ein Grund: Das europäische Stahlangebot wachse langsamer als die Nachfrage. “Kern der Entwicklung ist, dass die im Sommer vorherrschende Erwartung einer nur zögerlichen Erholung der Industrie und des Welthandels von der tatsächlichen Entwicklung überholt worden ist”, so Schneider. Demnach haben Produzenten die Hochöfen also nicht parallel zum Bedarfsanstieg hochgefahren.
Importbeschränkungen verstärken Versorgungsproblem
Einfuhren aus Drittländern könnten dem Mangel entgegenwirken. Über 60 Prozent der Befragten sind jedoch der Meinung, dass geltende EU-Importbeschränkungen das Versorgungsproblem verstärken. Vor kurzem hat die EU bekanntgegeben, neue Antidumping-Zölle auf Einfuhren warmgewalzter Coils aus der Türkei zu verhängen. Vor diesem Hintergrund geht der IBU davon aus, ebendiese “gewollte Abschottung” schütze europäische Stahlproduzenten und belaste wiederum die Stahlverarbeiter, die auf das Vormaterial angewiesen seien.
Der IBU will nun mit Nachdruck auf die erwähnten Beschaffungsprobleme aufmerksam machen und dazu anregen, Einfuhrbeschränkungen zu hinterfragen: “Unsere Mitglieder sehen gerade ein paar Lichtblicke. Wir können es uns jetzt nicht leisten, diesen Positivtrend durch einen Materialengpass zu gefährden”, zieht Jacobs ein Fazit.