Als Stahlwerk in der sächsischen Provinz, quasi irgendwo im Nirgendwo, fliegt ESF Elbe-Stahlwerke Feralpi sprichwörtlich unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die italienische Mutter Feralpi ficht dies jedoch nicht an: Der Investitionsplan, um den Standort zu dekarbonisieren, ist in satt dreistelliger Millionenhöhe konzipiert.
Der Beitrag stammt aus der Titelstrecke rund um Green Steel in Ausgabe 8/22 von stahl + eisen (Seite 16–18). Autor ist Torsten Paßmann, der sich selbst ein Bild vor Ort gemacht hat.
Deutschland Anfang der 1990er Jahre: Die Stimmung im wiedervereinigten Land changiert zwischen Optimismus aufgrund neuer Chancen, Wildwest-Abenteurertum (ebenfalls aufgrund dieser Chancen) und Resignation durch leider notwendige Sanierungsmaßnahmen. Heftig davon getroffen wird beispielsweise die Stahlstadt Riesa in der sächsischen Provinz auf halber Strecke zwischen der Messemetropole Leipzig und der Landeshauptstadt Dresden. Vor der Wiedervereinigung gab das Stahlkombinat bis zu 12 000 Menschen Arbeit und den örtlichen Erstligafußballern den Namen. Nach der Wende blieb jedoch nahezu wortwörtlich kein Stein auf dem anderen – das Werk wurde bis auf die Grundmauern zurückgebaut.
Die Mitarbeiter indes blieben vielfach vor Ort, „sehr gute Leute, die die stolz auf ihre Produktionstradition und die Arbeit in der Stahlindustrie sind“, und die „auch diesen Teil von Deutschland neu gestalten und wieder auferstehen“ lassen wollten, wie Feralpi-Chef Giuseppe Pasini im Rückblick sagt. Tatsächlich seien sie ein wesentlicher Grund gewesen, als Familienunternehmen erstmalig außerhalb des italienischen Mutterlandes zu expandieren. Speziell in Zeiten der Dekarbonisierung kommt dem 1992 neu gegründeten Unternehmen ESF Elbe-Stahlwerke Feralpi außerdem zugute, dass direkt zum Auftakt die richtigen strategischen Weichen gestellt wurden.
Dreifach vergrößerter Standort
„Der Lichtbogenofen emittiert weniger CO2 als der Hochofen im integrierten Hüttenwerk. Im Vergleich dazu waren wir schon immer mehr auf der saubereren Seite“, betont Pasini. Bevor aber der erste Stahl geschmolzen werden konnte, stand aber eine Reihe von Gesprächen an – u.a. bei der damaligen Treuhand in Berlin. Pasini: „Sie saßen zu der Zeit im monumentalen Detlev-Rohwedder-Haus, in den 1930er Jahren Sitz des Reichsluftfahrtministeriums, und haben uns deutlich den Rahmen abgesteckt. Uns wurde ganz klar gesagt, wie viele Leute wir einstellen sollen und dass wir mindestens 250 000 Tonnen Stahl erzeugen sollen. Gleichzeitig haben sie uns mit 150 000 qm aber nur einen Teil der Grundfläche gegeben.“
Finanzmittel und Förderung kamen vom Freistaat Sachsen, aus Italien die Kompetenz, mit einem Elektrostahlwerk Stahl zu erzeugen, und die Mitarbeiter waren ja schon vor Ort. Mittlerweile umfasst das Personal rund 750 Menschen (inklusive Verwaltung und weiterer Unternehmen wie der hauseigenen Logistikgesellschaft), die Grundstücksgröße beträgt 500 000 qm und die Produktion liegt um 1 Mio. Tonnen Stahl. Und auch die Maßnahmen für eine umweltfreundliche Erzeugung sind mit der Zeit gewachsen.
Volle Bandbreite der Maßnahmen
„Als ich 2021 bei ESF angefangen habe, war ich überrascht und beeindruckt, welche Standards in Riesa herrschen. Es ist nur eines von zwei Stahlwerken in Deutschland, welches die höchste Umweltzertifizierung EMAS aufweist“, sagt Uwe Reinecke. Das Werk sei nicht nur über den Lichtbogenofen „halb grün in der Stahlerzeugung“, so der Werksleiter, das Unternehmen habe zudem die gesamte Klaviatur der Optimierungsmöglichkeiten in der Stahlerzeugung bespielt – Stromeinsatz, Aufbereitung von Schrott, Nutzung der Abwärme des E-Ofens. In ein paar hundert Meter Entfernung bezieht der Reifenhersteller Goodyear kontinuierlich Dampf für seine Wärmeenergie.
Reinecke: „Auch in die Entstaubung ist über die Jahre viel Geld geflossen. Ich denke, dass hier auch im Branchenvergleich mit anderen Stahlwerken durchaus Maßstäbe gesetzt werden.“ Auf den Lorbeeren will sich die sächsisch-italienische Kollaboration jedoch nicht ausruhen, die nächsten Schritte sind nicht nur geplant, sondern teilweise schon in die Wege geleitet.
„ESF in Riesa ist nur eines von zwei Stahlwerken in Deutschland, welches die höchste Umweltzertifizierung EMAS aufweist.“
(Uwe Reinecke)
Vier strategische Investitionen…
Zum 30-jährigen Bestehen erfolgt die Erweiterung des Werk um ein zweites Walzwerk, wo der neue Ofen induktiv auf Strom statt auf Gas setzt. Damit der umweltfreundliche Aspekt voll zum Tragen kommt, müsse der eingesetzte Strom natürlich auch „grün“, wie Werksleiter Reinecke zu bedenken gibt. Die größte der insgesamt vier strategischen Investitionen in Riesa dient vor allem dazu, den Stahlüberschuss, der bereits bei 1 Mio. Tonen schon besteht, weiter zu reduzieren. „Bei uns bleiben eine Menge Knüppel liegen, die wir dann an die Familie nach Italien schicken oder extern verkaufen. Wir wollen das Stahlwerk dann so auslasten, dass es beide Walzwerke bedienen kann und wir keinen Überschuss an Halbfabrikaten mehr haben“, so Reinecke.
Tatsächlich soll die Produktion auf 1,3 Mio. Tonnen steigen, dass das alte Walzwerk mit 800 000 Tonnen und das neue Walzwerk mit 500 000 Tonnen ausgelastet sind. Auch soll am Ende ein neues Produkt stehen – denn „einen acht Tonnen warmgespulten Coil hat auf unseren Zielmärkten Deutschland und Benelux noch kein Anbieter“, wie Reinecke erläutert. Zusätzlich ließen sich so beim Draht das Kaltumformen und ein Teil der sieben Drahtlinien einsparen. „Diese eine Investition wird auf jeden Fall zur Reduktion der CO2-Emissionen beitragen“, hebt Reinecke mit Nachdruck hervor.
…darunter die Schrottaufbereitung
Die zweite große Investition ist eine neue Schrottaufbereitung, um den Schrott für die Zufuhr zum E-Ofen stückiger und sauberer zu machen – aufgrund der optimierten Dichte sollen dann zukünftig zwei statt drei Körben ausreichen. Für den Auf- bzw. Ausbau von Gebäude und Equipment inklusive Automatikkranen, die Körbe sollen mannlos beladen werden und direkt zum Ofen fahren, liegt die Kalkulation bei 40 Mio. Euro. Um wikrlich anwalzen zu können, braucht es die Investitionen drei und vier: „Die eine ist unser Umspannwerk, das derzeit am Kapazitätslimit ist, denn wir wollen alle Verbraucher optimal angeschlossen haben. Die andere Maßnahme ist die Verbesserung der Werkslogistik auf dem gesamten Gelände“, erläutert Reinecke.
Neues Walzwerk soll neue Maßstäbe setzen
Die Inbetriebnahme des neuen Walzwerks ist für das zweite Halbjahr 2024 anvisiert. Der Aufbau liegt in den Händen des Anlagenbauers Danieli und perspektivisch sollen 100 neue Arbeitsplätze vor allem in der Produktion und produktionsnahen Bereichen entstehen. Die Bedeutung des Projekts zeigt sich an der Teilnehmerliste für den symbolischen ersten Spatenstich Anfang Juli. Während mit Werksleiter Uwe Reinecke und Oberbürgermeister Marco Müller als „übliche Verdächtige“ quasi gesetzt sind, waren vor Ort auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, Hans Jürgen Kerkhoff, Vorsitzender der Wirtschaftsvereinigung Stahl in Deutschland, sowie aus Italien Feralpi-Chef Giuseppe Pasini und Danieli-CEO Giacomo Mareschi Danieli. Das neue Walzwerk werde „neue Maßstäbe in Sachen Innovation und Nachhaltigkeit“ setzen, heißt es selbstbewusst aus dem Werk.
Was die technischen Details angeht: „Es wird über einen 300 Meter langen Heißbeschickungs-Rollgang direkt mit der vorhandenen Stranggießanlage verbunden sein. Anstelle des bisherigen Gaserwärmungsofens setzen wir ausschließlich Induktionserwärmung ein, um direkte CO2-Emissionen zu vermeiden“, fasst Werksleiter Reinecke die Vorteile zusammen. Das Walzwerk wird 16 Walzgerüste, einen Sechsstich-Fertigblock und eine Spooler-Linie umfassen. Der K-Spooler wird Stabstahl-Coils mit einem Gewicht von 8 Tonnen produzieren – die schwersten Coils für den deutschen Markt für Langstahl mit einem Durchmesser von 8 bis 25 mm. Big Data und künstliche Intelligenz von Danieli Automation garantieren eine Echtzeitanbindung der bestehenden Stranggießanlage an das neue Walzwerk und sorgen sowohl für das Senken des Heizenergieverbrauchs als auch für das dynamische Regeln der thermomechanischen Prozesse und damit für eine bestmögliche Qualität des Endprodukts.
Künstliche Intelligenz für schnelle Ergebnisse
Kurzfristig optimiert ESF Elbe-Stahlwerke Feralpi aber schon im laufenden Betrieb die Temperaturführung des Stahlwerks, um dauerhaft Energiekosten zu sparen und die Prozessstabilität von der EAF-Stahlerzeugung bis zum Strangguss erhöhen. Das heißt konkret: Smart Steel Technologies, ein Unternehmen mit der Spezialisierung auf Künstliche Intelligenz (KI), hat im Mai erst den Auftrag erhalten, vor Ort die Softwarelösung SST Temperature AI zu installieren. Diese wird im Stahlwerk installiert, wobei die einzelnen Komponenten alle Prozesse vom Elektrolichtbogenofen (EAF) über die Sekundärmetallurgie bis zur Stranggießanlage abdecken.
Das KI-basierte System ergänzt die bestehende Prozesssteuerungssoftware und liefert Echtzeit-Temperaturvorhersagen sowie Echtzeit-Empfehlungen für die Bediener an allen Stationen des Schmelzbetriebs. Dadurch soll Temperaturschwankungen minimieren, die Prozessstabilität erhöhen und Temperaturpuffer reduzieren. Auf diese Weise kann der Schmelzbetrieb das Temperaturniveau in der Produktion insgesamt senken, was zu dauerhaften Energieeinsparungen und erhöhter Produktivität führt. „Wir vertrauen auf die Expertise von Smart Steel Technologies und planen, schnell entsprechende Ergebnisse zu erzielen“, fasst Reinecke zusammen.
Ausblick
Aktuell liegt der CO2-Fußabdruck für Stahl aus Riesa bei circa 52 Kilogramm pro Tonne erzeugtem Stahl und unter 80 Kilogramm pro Tonne bei gewalzten Produkten. Bis Ende 2025/Anfang 2026 wird die italienische Mutter Feralpi über 180 Millionen Euro in ihre deutsche Tochter in Riesa investieren – die Maßnahmen zielen dabei sowohl auf operative Verbesserungen als auch die weitere Dekarbonisierung ab. Die Zahlen machen deutlich, dass die Geschäftsleitung trotz aller Herausforderungen im Rahmen der Dekarbonisierung von Europa (und hier speziell Deutschland) als stahlerzeugendem Standort überzeugt ist.
Foto: ESF Elbe-Stahlwerke Feralpi