Die Wende zu grünem Stahl setzt in der Stahlindustrie eine gigantische Investitionswelle in Gang. Doch während die Unternehmen bei der Beschaffung von Teilen genau auf die Preise achten, laufen ihnen im Anlagenbau bei komplexen Großprojekten die Kosten häufig davon.
Der Beitrag erschien Form und unter dem vollen Titel Fehler im Großanlagenbau – Wie Unternehmen Kostenrisiken bei Großprojekten vermeiden können in Ausgabe 10/23 von stahl + eisen. Autorin ist Yurda Burghardt, Partnerin der Negotiation Advisory Group. Die 2018 gegründete Gesellschaft ist auf Verhandlungsberatung spezialisiert.
Die deutsche Stahlindustrie steht vor einer gigantischen Investitionswelle. Die Umrüstung auf klimaschonende Produktion erfordert die Abkehr von der CO2-intensiven Hochofenroute, den Ausbau von Elektrolichtbogenöfen und den Neubau von Direktreduktionsanlagen. Pro eine Million Tonnen Roheisenkapazität veranschlagen Hersteller Investitionen von einer Milliarde Euro. Dabei entstehen nicht nur immense Kosten für die neuen Produktionsanlagen, sondern auch für den Abriss der Hochöfen und für die Infrastruktur der neuen Produktionsverfahren. Umso wichtiger ist es, mit dem investierten Kapital effizient umzugehen, zumal Investitionen in der Branche einen langen zeitlichen Horizont haben und von ihnen die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit abhängt. Aber um am Markt und konkurrenzfähig zu bleiben, sind Investitionen in kohlenstoffärmere Produktionsanlagen alternativlos.
Fehler bei der Auftragsvergabe im Anlagenbau
Alle großen Stahlhersteller planen deshalb die Umstellung auf grünen Stahl. Sie stehen unter großem Wettbewerbsdruck, jeder will dabei die Nase vorn haben. Doch unter Termindruck kommt es häufig zu Fehlern schon bei der Ausschreibung der Vorhaben: Um schnell einen Generalunternehmer (GU) für ein Neu- oder Umbauprojekt zu finden, werden erst spät im Vergabeverfahren oder sogar erst nach dessen Nominierung die Vertragsdetails verhandelt. Und dann kommt meist das böse Erwachen: Die Kosten explodieren. Eine Großinvestition ist ein vergleichsweise komplexerer Vorgang als der Einkauf von Eisenerz, Schrott oder Softwareprogrammen. Das ist schon durch die Vielzahl der daran beteiligten Akteure begründet.
Die dazu angeheuerten Architekten und Bauingenieure konzentrieren sich in der Regel auf die technischen Details und weniger auf die Preise. Zudem vernachlässigen sie die monetäre Vergleichbarkeit der Angebote und die wirtschaftlichen Risiken des Nachtragsmanagement. Die Folge: Bei Mehrpreisforderungen gibt das Unternehmen nach, damit sich der Bau nicht durch lange juristische Verfahren verzögert. Aber ist der Auftrag vergeben, büßen die Unternehmen erheblich an Verhandlungsmacht ein. Der GU ist in dann in der stärkeren Position und kann seine Forderungen leichter durchsetzen. Bei Investitionen im dreistelligen Millionenbereich kommen so erhebliche Mehrkosten zustande, die den Etat sprengen und sogar die Existenz von Unternehmen gefährden können.
Die Angebote monetär vergleichbar machen
Wichtiger als die eigentliche Verhandlung ist deshalb die sorgfältige Vorbereitung der Auftragsvergabe im Anlagenbau. So ist bei der Ausschreibung, dem Request for Quotation (RfQ), darauf zu achten, dass das Angebot mit einem verbindlichen Preis-Commitment versehen ist. Da zwischen RfQ und Auftragsvergabe manchmal Monate vergehen, können sich die Preise für einzelne Komponenten angesichts von hoher Inflation in der Zwischenzeit so verteuern, dass das Budget nicht mehr einzuhalten ist. Die Ausschreibung muss auch so formuliert sein, dass die Angebote technisch vergleichbar sind und entsprechend monetär bewertet werden können. Unterschiede zwischen den Konzepten sind durch eine Bonus/Malus-Bewertung vergleichbar zu machen. So kann man für bessere technische Konzepte oder Servicegarantien einen Bonus vergeben. Nachteilige Konzepte erhalten einen Malus. Dadurch lassen sich die unterschiedlichen Angebote der Generalunternehmen auf Euro und Cent vergleichbar machen und auf dieser Basis rationale Entscheidungen fällen.
Nachtragsmanagement schon bei der Auftragsvergabe mitverhandeln
Die Ursache für ungeplante Kostensteigerungen im Anlagenbau liegt häufig in der Vernachlässigung des Nachtragsmanagements. In der Regel kalkulieren die GU den Preis meist sehr knapp, um den Auftrag für die Anlage oder das neue Werk zu bekommen. Da aber nachträgliche Veränderungen technischer Details im Verlauf eines solchen Großprojekts geradezu zwangsläufig sind, wird es richtig kostspielig, wenn die Kosten solcher Änderungen nicht schon bei der Vertragsverhandlung geregelt wurden. Hier liegt meist der eigentliche Gewinn des Generalunternehmers. Alle solche vorhersehbaren technischen Optionen sollten deshalb durch einen Change-Management-Katalog erfasst und die Preise dafür festgelegt sein, so dass der GU hier keinen zusätzlichen Spielraum für Preiserhöhungen hat. Je genauer die Gewerke im Vertrag spezifiziert sind, umso geringer ist der Hebel des GU für Mehrpreisforderungen nach der Vergabe.
Preis- und Zeitrisiken identifizieren und entsprechend incentivieren
Genauso wichtig ist es, mit dem GU eine verbindliche Zeitschiene für den Bau der Anlage zu vereinbaren, die, ausgehend von der Auftragsvergabe, den Start- und Endtermin definiert. Bei Verzögerungen sollten Pönalen wirksam werden, sodass der GU einen Anreiz hat, den Rückstand aufzuholen. Umgekehrt kann der GU durch Abschlagszahlungen belohnt werden, wenn er bei wichtigen Meilensteinen in der Realisierung der Großinvestition im Zeitplan liegt. Angesichts der volatilen Rohmaterialpreise und steigender Löhne empfiehlt sich eine anreizorientierte Vertragsgestaltung. Denn eine Fixpreisklausel wird allein dem Generalunternehmer das Risiko höherer Preise aufbürden, dass er dann auf den Gesamtpreis aufschlagen müsste. Umgekehrt werden ihm niedrigere Materialpreise oder geringer steigende Lohnkosten zu ungerechtfertigten Gewinnen verhelfen.
Wird aber eine Preis- und Lohngleitklausel vertraglich vereinbart, hätte der GU keinen Anreiz, im Fall steigender Preise und Löhne nach günstigeren Lösungen für den Auftraggeber zu suchen. Die Lösung ist die Kombination von Preis- und Lohngleitklauseln mit dem Open-Book-Verfahren: Wenn der GU berechtigte Mehrpreisforderungen durch geringeren Materialverbrauch oder andere Maßnahmen kompensieren kann, erhält er einen Bonus.
Berechtigte Claims gegenüber dem Generalunternehmer verhandeln
Viele Unternehmen erkennen es teilweise nicht, wenn sie berechtigte Ansprüche gegenüber dem Generalunternehmer haben. Etwa weil aufgrund technischer Änderungen weniger Material verbraucht wird oder weniger Tage-Aufwand entsteht. Dass der GU die geringeren Kosten dem Unternehmen nicht aus eigenem Antrieb vergüten wird, ist nachvollziehbar. Es liegt an dem Auftraggeber, diese Claims gegenüber dem GU einzufordern. Doch viele Unternehmen vernachlässigen diese Möglichkeit – unabsichtlich, weil sie sie nicht bemerken. Unserer Erfahrung nach verhandeln sie zwei von drei berechtigten Claims nicht. Das liegt wieder daran, dass an dem Projekt viele mitwirken, deren Interessen nicht darauf ausgerichtet sind, solche Ansprüche gegenüber dem GU zu verfolgen.
Der Architekt kümmert sich um die technische Realisierung des Baus. Der Bauleiter hat den Zeitplan im Auge – verständlich angesichts von Personalmangel und Material-Lieferproblemen. Der Projektleiter fokussiert sich auf den Zeitplan und das Budget. Und dem Einkauf des Unternehmens fehlt es an technischer Kompetenz, um diese Claims zu erkennen, ganz abgesehen davon, dass der Einkauf nicht vor Ort auf der Baustelle ist. Deshalb sollten die Unternehmen die Schnittstelle zwischen Baustelle, Fachabteilung und Einkauf richtig managen, um solche Claims entdecken und verhandeln zu können. Es sollte unbedingt einen Verantwortlichen geben, der Informationen über technische Veränderungen vom Bauleiter erhält, sie monetär bewertet und die Claims dem Einkauf übermittelt.
Fazit
Das kontinuierliche Monitoring der Großinvestitionen wie im Anlagenbau gehört heute zu den wichtigsten Aufgaben für den Vorstand oder die Geschäftsführung. Unberechtigte Mehrpreisforderungen abzuwehren und berechtigte Claims gegenüber dem Generalunternehmen durchzusetzen – beides entscheidet maßgeblich über die zukünftige Rentabilität der neuen Großanlage.