Die Stahlindustrie auf der Achterbahn: Trotz der Überkapazitäten in Europa und dem Einbruch im vergangenen Jahr erlebt die Branche derzeit eine Sonderkonjunktur. Gleichzeitig hat sie mit massiven Preissteigerungen bei Eisenerz zu kämpfen – und mit der Dekarbonisierung droht ein weiterer Kostenschub. Wie können Unternehmen solche Volatilität und entsprechende Risiken managen? Unser Gastautor, ein Experte für B2B-Verhandlungen, setzt dabei auf die Spieltheorie.
Der folgende Beitrag stammt aus der August-Ausgabe 2021 von stahl + eisen, genauer: der Rubrik Recht + Finanzen. Damit Sie früher bestmöglich informiert sind, empfehlen wir ein Heft-Abo.
Die aktuellen Preissteigerungen für Eisenerz treffen die Stahlbranche hart: Die Kosten pro metrischer Tonne haben sich gegenüber dem Vorjahr glatt verdoppelt, in den vergangenen fünf Jahren sogar vervierfacht. Und solche Preissprünge gibt es derzeit nicht nur bei Rohstoffen, sondern auch bei Vorprodukten wie etwa Halbleiter. Einkäufer sprechen schon von einem „Höllenjahr 2021“.
Fragile Lieferketten
Die Unternehmen machen derzeit die schmerzliche Erfahrung, dass ihre ausgefeilten Lieferketten äußerst fragil sind. Ihre Optimierungsbemühungen in den vergangenen Jahren – aus Kostengründen Konzentration auf womöglich nur einen Lieferanten – rächen sich. Das Ideal der schlanken Produktion, von „Just in Time“ und „Just in Sequence“, bei dem die Unternehmen Rohstoffe und Vorprodukte zeit- und mengengenau sowie in der richtigen Reihenfolge von ihren Lieferanten in die Produktion einspeisen lassen, ist hochgradig gefährdet.
Die aktuelle Dramatik dürfte zwar wieder etwas abebben. Produktionskapazitäten werden ausgeweitet, Lieferketten repariert. Der Preisschub bei Rohstoffen und Vorprodukten wird etwas nachlassen. Aber eine Rückkehr der Preisstabilität der vergangenen Jahre ist ausgeschlossen. Die Zeiten von Null-Inflation sind vorbei, deshalb dürfte bald auch die Zeit der Null-Zinsen enden. Die Unternehmen müssen jetzt lernen, in einer deutlich dynamischeren Welt mit Engpässen und hoher Preisvolatilität in einzelnen Rohstoff- und Produktsegmenten zu operieren. Für die Stahlindustrie kommt verschärfend hinzu, dass die Klimavorgaben der EU die CO2-Zertifikate erheblich verteuern werden. Stahl ist mit einem Anteil von 25 Prozent der CO2-Emissionen der Industrie davon am meisten betroffen. Für die Branche bedeutet das einen Kostenschub von 20 bis 50 Prozent.
Aufbau von Kompetenzteams notwendig
Die Unternehmen kommen deshalb nicht umhin, sich und ihre Beschaffungseinheiten neu aufzustellen. Sie müssen ihr Risiko- und Verhandlungsmanagement verfeinern: Um in Zukunft solche Preis- und Prozessrisiken frühzeitig zu erkennen und besser zu managen und um die Versorgung durch Lieferanten und die Nachhaltigkeit ihrer Produktion sicherzustellen. Vielen Unternehmen ist gar nicht bewusst, wie abhängig sie von einzelnen Materialien sind, und wenn sie es realisieren, ist es häufig schon zu spät. Denn auch bei Rohmaterialien, die eigentlich im Überfluss vorhanden sind, kann sich ganz plötzlich die Lage zuspitzen. Das erfordert strukturelle, prozessorale und methodische Antworten.
Strukturell ist die Installation eines oder – je nach Größe und Geschäft des Unternehmens – mehrerer Kompetenzteams notwendig, deren Aufgabe darin besteht, als Stabsstelle Unternehmensführung, Einkauf und Vertrieb flankierend zu beraten. Um erfolgreich am Markt zu agieren, benötigen Unternehmen für die Themen Risikomanagement, Nachhaltigkeit, Verträge und Verhandlungen zunehmend Spezialwissen, das nicht nur für Einkauf und Vertrieb, sondern beispielsweise auch für die Investitions- und Standortplanung relevant ist. Es reicht in Zukunft nicht mehr, wenn eine Person beziehungsweise eine Einheit für den Einkauf eines speziellen Produktes oder einer Warengruppe in der Art eines Allrounders zuständig ist für alles, was diese Warengruppe betrifft. Etliche Unternehmen haben deshalb schon die Position eines „Chief Negotiation Officer“ geschaffen, der oft direkt an den Vorstand berichten und in alle wichtigen Verhandlungen (nicht nur Einkauf, auch Vertrieb, HR, etc.) eingeschaltet wird.
Ähnlich benötigen sie Expertenteams, die die für das Unternehmen wichtigen Rohmaterialien im Blick haben und folgende Fragen klären: Wie kaufen wir aktuell am Markt ein? Wo gehen die für uns relevanten Preise an den Rohstoffmärkten hin? Wie viel Volumen sollen wir auf Basis dieser Einschätzungen einkaufen? Wann sollen wir kaufen? Auf welchen Märkten? Welche Verträge sollen wir anwenden? Indexverträge, die eine Preisveränderung berücksichtigen? Was ist mit Fixverträgen oder mit Rahmenverträgen? Oder zum Spotpreis kaufen, kurzfristig je nach Bedarf? Über dieses Know-how kann ein einzelner Einkäufer natürlich gar nicht verfügen, sondern nur ein Expertenteam.
Ohne Datentransparenz verhandeln Einkäufer im Blindflug
Das Zusammenspiel zwischen Einkäufer und Kompetenzteam bedingt prozessorale Veränderungen für den Einkaufsprozess, für Ausschreibungen und für das Vertragsmanagement. Als erstes Datentransparenz: Der Einkauf muss wissen, welche Rohmaterialien in den von den Lieferanten angebotenen Vorprodukten und Maschinen stecken. Erst dann ist nachvollziehbar, ob ein geforderter höherer Preis gerechtfertigt oder überzogen ist. Um auf Augenhöhe mit dem Lieferanten verhandeln zu können, müssen sich Einkäufer also Transparenz über die Technologie des Produkts verschaffen. Aus welchen Rohmaterialien setzt es sich zusammen? Wie ist deren Preisentwicklung? Und welche Implikation hat das auf den Gesamteinkaufspreis? Diese Datentransparenz haben bislang die meisten Einkäufer nicht und verhandeln so im Blindflug. Dies hat zur Folge, dass sie ungünstige Verträge abschließen.
Zur Datentransparenz gehört auch, sich Klarheit über Preisindizes zu verschaffen. Viele Einkaufsverträge werden auf Basis von Preisindizes abgeschlossen. Darunter sind offizielle Daten von statistischen Ämtern, viele werden aber auch von privaten Instituten erstellt, und da gilt es aufzupassen. Denn nicht immer sind sie so neutral und objektiv, wie es den Anschein hat. Häufig sind sie vorteilhaft für die Lieferanten konstruiert. So gibt es im Bereich IT und EDV einige Institute, die Preisindizes für elektronische Komponenten erheben, deren hauptsächliche Kunden die großen Elektronikhersteller sind. Auch in etlichen Kunststoff-Märkten wird den Kunden von den Lieferanten ein Preisindex in den Vertrag vorgegeben, der aufgrund der oligopolistischen Marktsituation von wenigen Anbietern selbst bestimmt wird. Die Hersteller melden ihre Verkaufspreise an das Institut, und daraus ergibt sich dann der scheinbar neutrale, in Wirklichkeit aber ein von den Lieferanten moderierter oder manipulierter Preisindex.