Die Unternehmerin Anna Yona ist eigentlich in einer Branche unterwegs, die ziemlich weit weg von der Stahlindustrie ist. Das von ihr gegründete Unternehmen setzt jedoch seit seinen ersten Tagen auf „New-Work“-Modelle und war in den eigenen Abläufen direkt auf die neuen Bedingungen in den vergangenen anderthalb Jahren eingestellt. Sie erlebt Homeoffice als Befreiung und schildert in ihrem Impulsbeitrag die vielfältigen Vorteile einer offenen Arbeitskultur.
Der Beitrag stammt aus stahl + eisen 12/21. Gastautorin Anna Yona ist Gründerin und Geschäftsführerin des Unternehmens Wildling Shoes. Sie hat von Anfang an einige Dinge anders gemacht, als sie üblicherweise in Ratgebern skizziert werden. Die Loyalität der Mitarbeiter, das Firmenwachstum und die externe Anerkennung – zuletzt erhielt sie im September den von ZDF und Stern ausgelobten Deutschen Gründerpreis – bestätigen ihren Kurs.
Homeoffice ist eine sehr gute Idee
Stahlkochen macht man nicht im Homeoffice, kein Zweifel. Niemand steht im silbernen Schmelzermantel im Wohnzimmer, bereit für den Abstich. Personalchefs, die mit diesem plastischen Argument das Thema „New Work“ per se für die Schwerindustrie als utopisch abräumen wollen, liegen dennoch falsch. Homeoffice ist abseits der physischen Produktion und Logistik eine sehr gute Idee – und zwar für jeden Betrieb in fast allen Funktionsbereichen. Wer es nicht anbietet, verschenkt Potenzial und blockiert seine eigene Talentsuche.
Woher nehme ich die Überzeugung? Wir produzieren Schuhe und haben seit dem ersten Tag nicht bereut, mit unserem 250-köpfigen Team fast vollständig remote aufgestellt zu sein. Ein zentrales Büro gibt es nicht, alle wählen frei ihren Arbeitsort und auch weitgehend frei ihre Arbeitszeit. Im ersten Schritt verzichteten mein Mann und ich aus praktischen Erwägungen auf ein Büro: Wir wollten beim Gründen mehr Zeit für unsere Kinder haben. Daraus erwuchsen Überzeugung und Methoden. Örtliche Flexibilität erspart viel tote Zeit im Stau. Wenn ich selbst nicht auf der A4 im Auto festsitzen möchte, warum sollten es unsere Angestellten tun? Unser vertrauensbasiertes Modell ist familienfreundlich – 60 Prozent der Menschen bei Wildling sind Eltern, der Frauenanteil liegt bei knapp 75 Prozent.
Qualitätsgewinn bei der Rekrutierung
Homeoffice mit klaren Kommunikationsstrukturen – dieses Konzept hat sich bewährt. Und das für beide Seiten. Zu den offensichtlichen Vorteilen wie Zeitgewinn, Mietersparnis und eine bessere Ökobilanz kommt ein Qualitätsgewinn bei der Rekrutierung: Wir nutzen die Chance, die am besten zu uns passenden Fachkräfte zu finden und zu binden – ganz gleich, wo sie wohnen. Wer sich in einer hippen Metropole wohl fühlt, kein Problem. Einen Umzug in die Provinz erwartet hier niemand. Digitale Tools wie Google Meet, Asana und Slack sorgen für ein produktives Miteinander. Gemeinsame Projekte können hier auch zeitversetzt bearbeitet werden, was Deep-Work-Phasen ermöglicht, in denen man ungestört bleibt.
Unser Firmensitz, das beschauliche Engelskirchen im Bergischen Land, dient als Anlaufstelle für die organisierten Meetings – auch das Teambuilding am Lagerfeuer zählt dazu. Denn Elemente aus der Präsenzkultur, die das Wir-Gefühl stärken, sind in remote aufgestellten Unternehmen unverzichtbar. Das haben wir in der Pandemie gespürt, als „Stay home“ zum offiziellen Gebot wurde. Für das vermeintlich Nebensächliche, aber eben Verbindende muss man strukturell Raum schaffen. Wir verabreden uns regelrecht zum Geschichtenerzählen, zum Spaß haben. In einer Arbeitsumgebung, die auf Remote setzt, muss man den menschlich-motivierenden Austausch, der sich sonst im Büro spontan ergibt, aktiv gestalten.
Kulturwandel ist fällig
Die Pandemie war ein Feldversuch quer durch alle Branchen, der gerade in kleinen und mittleren Unternehmen die Offenheit vieler Personalverantwortlichen gefördert hat. Manch einer rieb sich die Augen: Vertrauen zahlt sich aus, die Arbeitsergebnisse leiden nicht – im Gegenteil. Selbstwirksamkeit hebt die Motivation und fördert die Identifikation mit dem Unternehmen. Umfragen dokumentieren ein Umdenken: Zwar wünschen sich nur die wenigsten Angestellten in Zukunft einen reinen Heimarbeitsplatz. Die meisten plädieren für einen Mix – allerdings mit höherem Homeoffice-Anteil als zuvor. Und vor allem: Sie hätten gerne Wahlfreiheit. Wo kann ich welche Tätigkeit am besten ausführen? Ich bin sicher: Jede und jeder hat dafür das nötige Gespür – es braucht kein Diktat.
Ein Kulturwandel ist fällig, auch um die Mitarbeiter der heranwachsenden Generation an sich binden zu können. Sie sind mündig und stellen Sinnfragen – sehr berechtigte, wie ich finde. Chefs, die nun wieder ihre Leute aus Gewohnheit oder auch Machtkalkül um sich scharen, um sie mit Top-Down-Erwartungen zu konfrontieren, können sich auf innere Kündigungen einstellen. Wie oft sind Menschen an Bord, die ihren Job eigentlich hassen, weil die Strukturen sie anöden? Und wie produktiv sind die noch? Es lohnt sich, hier einmal in Opportunitätskosten zu denken.
Loslegen im Kleinen
Wir erleben bei Wildling täglich, wie viel Motivation es freisetzt, wenn man sagt: Ich vertraue Euch, ihr werdet Euren Arbeitsalltag schon organisieren können. Wie legt man los? Experimentell gelingt das ganz niederschwellig: Einfach probieren in kleinen Einheiten – mit zunächst begrenzter Laufzeit und ehrlicher Evaluation. Und wenn die Pionier-Abteilung im eigenen Unternehmen beim Thema „Freiheit“ ins Schwärmen kommt, wird der Rollout im gesamten Unternehmen sicherlich zum Selbstläufer.