Zukunftsweisend beweist die künstliche Intelligenz (KI) zunehmend ihr Potenzial für optimierte Prozesse in der Industrie. Gleichzeitig schafft sie aber auch beispiellose Herausforderungen für Unternehmen, die bislang keine oder nur wenig Berührungspunkte mit der Technologie haben. Bei Mitarbeitern schleicht sich zudem oftmals die Befürchtung ein, die künstliche Intelligenz könne eines Tages den eigenen Arbeitsplatz gefährden. Kein Grund zur Sorge, meint Dr. Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) sowie der Arbeitsgruppe „Arbeit/Qualifikation, Mensch-Maschine-Interaktion“ der Plattform Lernende Systeme. Im exklusiven Interview klärt er über den aktuellen Stand der Forschung auf und gibt Hinweise, wie Unternehmen das Vertrauen in die Technologie stärken können.
Dr. Bauer, die künstliche Intelligenz gilt als Herzstück und wesentlicher Treiber der Industrie 4.0. Wie lautet der Status Quo in Sachen Forschung und Entwicklung?
Bauer: Die Wissenschaft in Deutschland ist im Bereich Künstliche Intelligenz sehr gut aufgestellt, die Intensität der Forschung und Entwicklung im Bereich des maschinellen Lernens und Tiefenlernens ist hoch. Dadurch sind bereits signifikante Fortschritte gelungen, etwa beim autonomen Fahren, in der medizinischen Diagnostik oder bei Textübersetzungen. Künstliche neuronale Netze spielen dabei eine entscheidende Rolle. Gleichzeitig adressieren immer mehr Projekte ethische Fragestellungen und die Erklärbarkeit von KI-gestützten Systemen. Die Menschen werden KI-Anwendungen nur vertrauen, wenn sie deren Verhalten und Ergebnisse nachvollziehen können.
Grundsätzlich gilt es als enorm wichtig, Forschung und Praxis miteinander zu verbinden. Wie bewerten Sie diese Schnittstelle hinsichtlich der künstlichen Intelligenz?
Bauer: Für den Einsatz in der Industrie ist es weiterhin wichtig, dass die enge Verzahnung zwischen Forschung und Anwendung beibehalten und gestärkt wird, um KI-Technologien zur Optimierung von Prozessen und zur Unterstützung der Mitarbeitenden schnell verfügbar zu machen. Schwerpunkte in der Anwendungsforschung im Bereich der Produktion sind dabei v.a. Robotersysteme, Datengetriebene Prozessoptimierungen, digitale Assistenzsysteme, automatisierte Geschäftsprozesse und die durchgängige Nutzung von heterogenen Daten im Fabrikumfeld sowie zu Kunden. Gerade jetzt in der Krise wird deutlich, wie sehr wir bei Themen wie dem Supply Chain Management auf schnelle Informationsflüsse und genaue Prognosen angewiesen sind. KI könnte hier unsere Arbeit erleichtern.
„Wir werden keine Substitution von ganzen Berufsgruppen in naher Zukunft sehen. Vielmehr werden einzelne Aufgaben in einem Arbeitsprozess zukünftig durch KI-Technologien übernommen.“
– Dr. Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation
Unweigerlich wirkt sich KI auch auf die menschliche Beschäftigung aus. Wie arbeitet die Industrie in Zukunft?
Bauer: In den nächsten Jahren werden wir viele Lösungen zu schwacher KI sehen, also KI-Anwendungen, die ganz spezifische Probleme lösen können und nur in bestimmten und engen Einsatzbereichen intelligent sind. Schon jetzt gibt es Aufgaben, in denen KI-Technologien bessere Ergebnisse als der Mensch erzielen – aber eben jeweils nur innerhalb dieser eng definierten Aufgabe. So können Algorithmen bereits kurvige Bergstraßen autonom fahren, aber nicht auch gleichzeitig eine beabsichtigt lustige Geschichte schreiben. Damit wird sich die Arbeit nicht gänzlich verändern: Wir werden keine Substitution von ganzen Berufsgruppen in naher Zukunft sehen. Vielmehr werden einzelne Aufgaben in einem Arbeitsprozess zukünftig durch KI-Technologien übernommen.

Wie arbeitet die Industrie in Zukunft? Die Plattform Lernende Systeme hat einen Kriterienkatalog veröffentlicht, der Unternehmen dabei unterstützt, die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und KI sinnvoll zu gestalten. Foto: Shutterstock
Können Sie das weiter konkretisieren?
Bauer: Mit der Plattform Lernende Systeme, in der sich das Fraunhofer IAO engagiert, haben wir gerade einen Kriterienkatalog veröffentlicht, der Unternehmen dabei unterstützt, die Zusammenarbeit von Mitarbeitenden und KI sinnvoll zu gestalten. Die Tätigkeiten werden zwischen KI und Mensch aufgeteilt: Im industriellen Störungsmanagement könnte dies beispielsweise bedeuten, dass KI dem Mitarbeitenden aufwendige Untersuchungen und Datenvergleiche zur Ursachenanalyse abnimmt. Auf Basis des Analyse-Ergebnisses kann der Mitarbeitende dann kreative Lösungsstrategien entwickeln, umsetzen und die anderen Mitarbeitenden schulen. Die Wirksamkeitsprüfung der Maßnahmen könnte dann wieder die KI übernehmen und sich bei Abweichungen in der Maschine melden. Somit ist es auch ein Wechselspiel, in welchem manchmal der Mensch als Lehrer der KI agiert und umgekehrt.
Wenn wir aber ein paar Schritte weiterdenken, ist es vorstellbar, dass Anwendungen starker KI mittel- bis langfristig Einzug in die Industrie halten. Unter starker KI versteht man die Möglichkeiten, alle Aspekte der menschlichen Intelligenz nachzuahmen. Dadurch würde sich unsere Arbeitswelt sicherlich massiv verändern. Hier gehen die Meinungen jedoch auseinander, was die Dauer bis zur Verfügbarkeit solcher Technologien angeht: Von einigen Jahren bis nie erreichbar.