Die Messung der Phasenanteile im Ofen ein wertvolles Werkzeug, um die Herstellung von hochfesten Stählen (AHSS) zu verbessern. Eine mögliche Messmethode hierfür ist die Röntgenbeugung.
Der Beitrag stammt aus stahl + eisen 9/21. Autoren sind H. Krauthäuser und T. Terlau, IMS Messsysteme (Deutschland); C. Ionescu, F. van den Berg, D. Fintelman und S. Melzer, Tata Steel (Niederlande), E. Montagna, SEGAL (Belgien), A. Lhoest und A. Di Giovanni, Drever International (Belgien), U. Sommers und C. Sasse, SMS group (Deutschland).
Die Herstellung von hochfesten Stählen (AHSS) ist eine der wichtigsten Herausforderungen in der modernen Stahlherstellung. In der Automobilindustrie ermöglichen hochfeste Stähle die Reduzierung der Bandstärke und des Gewichts der Karosserie. Starker und leichter Stahl ist eine Voraussetzung für die Verbesserung der Energieeffizienz und ermöglicht die Reichweite von Elektrofahrzeugen zu erhöhen.
AHSS müssen die Verformbarkeit weicher Phasen mit der Festigkeit harter martensitischer oder bainitischer Phasen kombinieren. AHSS bestehen also aus zwei oder mehr Phasen, deren Anteile die resultierenden mechanischen Eigenschaften bestimmen. Im Glühprozess wird ferritisches Material teilweise in Austenit umgewandelt. Bei der anschließenden schnellen Abkühlung wird dieser Austenitanteil in harte Phasen wie Martensit umgewandelt. Ein stabiles Verhältnis zwischen Ferrit und Austenit während des Glühens ist notwendig, um eine homogene Festigkeit über die gesamte Bandlänge zu erreichen.
Ohne Messsystem wird dieses Verhältnis durch Modelle und indirekte Messungen sichergestellt. Die erforderlichen Temperaturprofile für den Glühprozess der verschiedenen Stahlsorten werden durch Labor- und Feldversuche ermittelt und durch Temperaturmessungen im Ofen kontrolliert. Oberflächenabweichungen und Änderungen des Emissionsgrades von Band zu Band oder auch über die Bandlänge führen zu Fehlern in der Temperaturführung. Weiterhin beeinflussen Schwankungen in der Ofenumgebung, der Legierungszusammensetzung oder die vorangegangenen Produktionsschritte des Eingangsmaterials die Dynamik der Phasenumwandlung.
Daher ist eine Messung der Phasenanteile im Ofen ein wertvolles Werkzeug, um die Produktion von AHSS zu verbessern. Eine mögliche Messmethode hierfür ist die Röntgenbeugung.
Röntgenbeugung
Die Röntgenbeugung war eine der großen Entdeckungen der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die die Kristallstruktur von Festkörpern offenbart. Die elektromagnetischen Röntgenwellen werden an dem kristallinen Material elastisch gestreut. Die Kristallstruktur bildet ein Gitter und verursacht Beugungsmuster in der gestreuten Strahlung. Das Braggsche Gesetz beschreibt den Zusammenhang zwischen der Wellenlänge λ und deren Vielfachen n, dem Netzebenenabstand d und dem Beugungswinkel θ. Aus der konstruktiven Interferenz der gestreuten Strahlung ergibt sich ein Strahlungsmaximum in Richtung θ.
Mehrere der Gitterebenen der Ferrit- (krz) und Austenit- (kfz) Konfiguration verursachen charakteristische Beugungsreflexe, die zur Identifizierung der kristallographischen Struktur verwendet werden können (siehe Abb. 2). Daher ist die Röntgenbeugung eine Methode, die direkt in der Lage ist, grundlegende Mikrostrukturparameter wie die Einheitszellengröße und den Einheitszellentyp zu messen. Sie ist nicht auf Korrelationsalgorithmen angewiesen.
Die Röntgenbeugung ist heute ein Standardverfahren der Laboranalytik. Sie wird verwendet, um verschiedene Materialien und Phasen zu identifizieren und zu quantifizieren oder um Texturen und Eigenspannungen zu bestimmen.
Online-Röntgenbeugungsmessung
Ein Online-System, speziell für die Messung während der Wärmebehandlung, muss vor der heißen Ofenatmosphäre geschützt werden. Außerdem bewegt sich das Band und der Abstand vom Röntgendetektor zur Quelle muss groß genug sein, um einen Kontakt zwischen dem Messgerät oder dem Schutzgehäuse und dem Band zu vermeiden. Schließlich muss die Messfrequenz schnell genug sein, um eine zufriedenstellende Auflösung in Längsrichtung zu erreichen.
Die Anforderungen führen zu einer Messung in Transmissionsgeometrie. Die Strahlung durchdringt das Band dabei senkrecht. Ein Flachbilddetektor auf der gegenüberliegenden Seite erfasst die Debye-Scherrer-Beugungsringe (siehe Abb. 3). Diese Anordnung ist robust gegenüber Bandbewegungen und liefert Messdaten über die gesamte Dicke des Bandes. Sie wird auch nicht durch die Bandrauhigkeit oder Oberflächenschichten beeinflusst.
Die Energie der Röntgenstrahlung muss hoch genug sein, um das Band zu durchdringen. Daher wird eine Röntgenröhre mit Wolframanode verwendet. Es kann Material mit bis zu 4 mm Dicke gemessen werden. Die Energie der Strahlung ist auch ausreichend, um die Schutzfenster in der Heißanwendung zu durchdringen.
Um scharfe Beugungspeaks zu erreichen, ist ein sehr feiner und quasi monochromatischer Röntgenstrahl erforderlich. Dies wird mit einer Strahlformungs- und Monochromatisierungs- einheit vor der Röntgenröhre realisiert. Da nur ein sehr kleiner Teil der erzeug-en Röntgenstrahlung durch diese Einheit austritt, ist der Kontrollbereich sehr klein.
Der Fachbilddetektor kann bei Raumtemperaturen eingesetzt werden. DerDunkelbild Drift wird durch einen Abgleich bei geschlossenem Strahler kompensiert. Die Detektordimension erlaubt die Erfassung von drei Ferrit- (110, 200, 122) und drei Austenit- (111, 200, 220) Beugungsringen. Die Messung des gesamten Umfangs der Ringe ermöglicht die Nutzung alle verfügbaren Photonen und reduziert das Signalrauschen. Aufgrund der geringen Intensität der gebeugten Strahlung kommt es zu keiner Alterung des Detektors.
Ein Strahlfänger vor der Detektormitte blockiert den Primärstrahl, der für die Messung keinen Nutzen hat. Der freie Spalt zwischen der Strahlformungseinheit und dem Strahlfang beträgt 400 mm. Der verbleibende Messspalt zwischen den Schutzfenstern beträgt 200 mm.
Die Bildverarbeitung erfolgt in der Software IMS VisionLab und MEVInet. Das 2D-Bild vom Detektor wird mit einer Zykluszeit von 2s aufgenommen und über fünf Bilder gemittelt. Die Mittelposition der Beugungsringe wird automatisch erkannt und das Diffraktogramm durch Integration über den 360-Grad-Umfang berechnet
Zur weiteren Auswertung muss das radiometrische Hintergrundsignal, verursacht z. B. durch Fluoreszenzstrahlung, vom Diffraktogramm subtrahiert werden. Außerdem wird die Abschwächung der gebeugten Strahlung durch die Banddicke kompensiert.
Das Online-XRD-System erzeugt breitere Beugungspeaks als ein Labor-XRD-System. Daher überlagern sich einige Beugungspeaks und können nicht getrennt werden. Eine Integration über die Peakintensitäten, wie sie in der ASTM E975 – 13 beschrieben ist, ist nicht möglich.
Daher haben wir uns entschieden, das komplette Diffraktogramm, ähnlich wie bei der Rietveld-Analyse, auszuwerten. Da die erwarteten Phasen (Ferrit/ Martensit und Austenit) bzw. die Einheitszellentypen für diese Anwendung bekannt sind, haben wir die Diffraktogramme der einzelnen Phasen von Proben aufgenommen und konnten die Charakteristik des Messsystems bei der Auswertung berücksichtigen.
Neben den Ferrit- und Austenitproben wurden auch Proben aus TRIP-Stahl hergestellt. Diese Proben wurden gedehnt, wodurch sich ein Teil des Austenits in Martensit umwandelt, der ein ähnliches Beugungsmuster wie Ferrit aufweist. Der Referenzaustenitgehalt wurde mittels XRD an einer Synchrotronquelle gemessen. Die Abweichung des gemessenen Austenitgehalts zwischen der Synchrotronmessung und dem IMS-Online-Messgerät beträgt weniger als 3 % (siehe Abb. 4).
Außerdem wurde die XRD-Messung in einem Glühsimulator getestet. Der Simulator kann Proben auf Temperaturen von über 1000 °C erhitzen. Während dieser Wärmebehandlung wurden die Phasenumwandlung und der Phasenanteil gemessen. Aufgrund der Wärmeausdehnung des Kristallgitters ändert sich die Position der Beugungspeaks. Außerdem wird die Peakintensität durch den Debye-Waller-Faktor mit steigender Temperatur abgeschwächt. Diese Einflüsse werden aus dem Detektorbild extrahiert und bei der Phasenanalyse kompensiert. Die XRD-Messung an DP-Stahlproben zeigt eine sehr gute Korrelation zu Dilatometer-basierten Messungen (siehe Abb. 5).
X-CAP-Messgerät
Das erste X-CAP-Online-Phasengehaltsmessgerät (X-CAP = Controlled Annealing Process) ist am Ende der langsamen Kühlstrecke in der kontinuierlichen Verzinkungslinie bei SEGAL in Belgien installiert (siehe Abb. 6). Die größte Herausforderung dabei war, das Messgerät vor der rauen Ofenumgebung zu schützen, ohne den Produktionsprozess durch diese Maßnahmen zu beeinflussen. Dazu gehört auch, dass die Schutzatmosphäre im Ofen, vor externer Luftzufuhr gesichert ist.
Deshalb wurde ein Schutzgehäuse konstruiert, das auf dem langjährigen Wissen der Drever International basiert. Dieses Gehäuse enthält auf jeder Seite des Bandes ein Rohr, das mit Hochleistungsmaterialien isoliert und aktiv gekühlt ist. Die Temperatur in diesen Rohren beträgt weniger als 40 °C, auch wenn die Bandtemperatur im Inneren des Ofens zwischen 600 und 750 °C liegt. Trotzdem war es möglich, den Außendurchmesser der Rohre zu begrenzen, so dass der verbleibende Spalt zwischen den Rohren einen ausreichenden Sicherheitsabstand erlaubt, um eine Kollision mit dem sich bewegenden Band zu vermeiden.
In der Bandmittenposition sind zwei Fenster mit geringer radiometrischer Dämpfung eingebaut. Die Fenster bestehen aus einem amorphen Material, das keine zusätzlichen Beugungsmuster erzeugt. Eine reflektierende Beschichtung schützt das Messgerät vor der Wärmestrahlung des Bandes.
Für die Messung des vertikalen Bandes wird ein gedrehter C-Messbügel verwendet. Das Messgerät ist mit einem Antrieb ausgestattet und kann zwischen der Messposition im Ofen und der Parkposition für Wartungszwecke verfahren werden.
In Parkposition können Probenmessungen durchgeführt werden. Hierfür steht eine entsprechende Einheit zur Verfügung, mit der die Messgeometrie inklusive der Fenster nachbildet wird. Die Einheit bietet weiterhin einen vollständigen Strahlenschutz bei den Messungen.
Betrieb
Das Messgerät misst den Austenitgehalt in der Bandmitte. Das Messergebnis wird längenbezogen erfasst und zusammen mit den Banddaten im Langzeitdatenspeicher MEVInet Q gespeichert. Für die Messung selbst werden keine externen Daten benötigt. Unterschiedliche Kalibrierungen für verschiedene Stahlsorten oder externe Signale zur Dicken- und Bandtemperaturkompensation sind nicht notwendig.
Während der Produktion bleibt das Messgerät in der Messposition. Der Dunkelbildabgleich zur Kompensation des Detektordrifts wird in der Messposition bei geschlossener Strahlerblende durchgeführt. Er wird automatisch nach einer definierten Zeit oder wenn die Signalverarbeitung die Notwendigkeit erkennt, ausgelöst. Die benötigte Zeit für die Abgleiche beträgt weniger als 2 % der Messzeit.
Eine Passlinevariation des Bandes führt zu einer Verschiebung der Peak Positionen im Diffraktogramm. Die beobachtete Abweichung in der aktuellen Anlage liegt bei etwa 0 bis +20 mm. Die Messwertverarbeitung kompensiert diese Verschiebung, genau wie den Einfluss durch Bandtemperaturänderungen automatisch. Nur sehr schnelle und nicht-periodische Bewegungen führen zu einer Bewegungsunschärfe. Dennoch kann dieser Fall durch den Restanpassungsfehler erkannt werden und wird als ungültiger Messwert gekennzeichnet. Der Gesamtanteil dieser ungültigen Werte in der Online-Anlage beträgt weniger als 0,1 % der Produktion.
Die Bandgeschwindigkeit wirkt sich positiv auf die Messung aus, da sie die Anzahl der Körner erhöht und die Bildqualität geglättet wird. Zur Überprüfung der Messstabilität wurde der Austenitgehalt von DP-Stahlcoils mit stabilen Produktionsbedingungen ausgewertet. Die Schwankung des Austenitgehalts beträgt weniger als 3 %:
Die online gemessenen Werte wurden auch mit den Ergebnissen von Labormessungen verglichen und belegen den engen Zusammenhang zwischen dem Austenitgehalt und den mechanischen Eigenschaften (siehe Abb. 7).
Das Messsystem wurden nach der Testphase in die Ofensteuerung integriert. Hierbei wurde der Regler des Ofenmodells für DP-Stahlsorten von Temperatur auf Austenitgehaltsregelung umgestellt.
Dies reduziert nicht nur die Schwankungen in den mechanischen Eigenschaften, sondern gibt dem Bediener auch die Flexibilität, von festen Produktionsprofilen abzuweichen. So kann ein Oberflächenproblem durch eine Variation der Geschwindigkeit oder Temperatur für einen speziellen Ofenabschnitt vermieden werden. Die Steuerung kompensiert in diesem Fall das unterschiedliche dynamische Verhalten der Phasenumwandlungen und sichert die korrekten mechanischen Eigenschaften des Produkts.
Fazit
Die Messung des Austenitgehalts im Glühofen bedeutet ein Paradigmenwechsel in der Herstellung von AHSS. Sie ermöglicht eine Regelung auf Basis des Austenitgehalts und reduziert die Schwankungen der mechanischen Eigenschaften. Eine höhere Flexibilität im Produktionsprozess hilft auch, Ausschuss zu vermeiden, der nicht mit den mechanischen Eigenschaften zusammenhängt. Die Online-Messung gibt der Produktentwicklung zudem einen tiefen Einblick in die Abhängigkeiten des Produktionsprozesses, da hier kontinuierlich eine große Menge von Messwerten gesammelt werden. Darüber hinaus enthält die XRD-Messung zusätzliche
Informationen über das Gefüge des Materials. Wir arbeiten derzeit an der Auswertung dieser zusätzlichen Messungen sowie an der Verwendung der Austenitgehaltsmessung an anderen Stellen im Prozess, wie z. B. der Restaustenitmessung für Q&P-Stahl.