Der Zugversuch ist ein aufwendiges und zerstörendes Prüfverfahren zur Ermittlung mechanischer Eigenschaften. Eine punktgenaue (lokale) Prüfung von Bauteilen, wie etwa bei der Härteprüfung, ist durch den Zugversuch nicht möglich. Das Eindruckverfahren nach DIN SPEC 4864 bietet entscheidende Verbesserungen bei der Prüfung von Bauteilen und Halbzeugen.
Der folgende Beitrag stammt aus der September-Ausgabe 2020 von stahl + eisen. Wir veröffentlichen ihn hier als Beispiel für unseren Journalismus „am Puls der Branche“. Damit Sie früher bestmöglich informiert sind, empfehlen wir ein Heft-Abo.
AUTOREN: Saskia Siegert, Dr.-Ing. Benjamin Schmaling, Dr.-Ing. Karl-Heinz Lindner, Imprintec GmbH
Das Eindruckverfahren nach DIN SPEC 4684 ist in der Lage, die vorteilhaften Eigenschaften von Zugversuch und Härteprüfung zu kombinieren. Eine Prüfspitze erzeugt in einer Probe oder in einem Bauteil einen Prüfeindruck vergleichbar zur Härteprüfung (s. Abb. 1). Der Eindruck wird dreidimensional vermessen und mit einem FEM-Werkstoffmodell abgeglichen. Durch Anpassung der Simulation an den realen Eindruck können analog zum Zugversuch die Fließkurven berechnet und anschließend ausgegeben werden.
Das Verfahren vollzieht sich vollautomatisch und in wenigen Sekunden. Es sind Grundkenntnisse in der Werkstoffprüfung vergleichbar zur Härteprüfung notwendig. Die Probenvorbereitung ist vergleichbar zu der für Härteprüfung und kann entfallen, sofern eine ausreichende Oberflächenqualität bereits vorhanden ist. Die DIN SPEC 4864 [1] wurde in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM) Berlin, dem Materialprüfungsamt NRW, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) Braunschweig und Industriepartnern erstellt. Das Verfahren liefert eine Fließkurve und somit Vergleichskennwerte zum Zugversuch, wie die Vergleichszugfestigkeit RIm und die Vergleichsdehngrenze RIp0,2 eines Materials. Für gewisse Werkstoffe kann ebenfalls bereits die Bruchdehnung eines Materials abgeschätzt werden. Durch die Aussagekraft vergleichbar zum Zugversuch und die Einfachheit und Flexibilität der Härteprüfung kombiniert das Verfahren die vorteilhaften Eigenschaften beider Verfahren.
Anwendungsfälle und resultierende Nutzen
Das Verfahren lässt sich beispielsweise für die folgenden Qualitätssicherungs- und optimierungsaufgaben anwenden:
- Zur Qualitätssicherung im Wareneingang
- Echte und lokale Bauteilprüfung z.B. an kleinen Bauteilen
- Für Detailanalysen bei Wärmebehandlungen, Tailored Tempering, Schweißverbindungen, thermomechanischen Prozessen, etc.
Anwendungsfall 1: Sichere Wareneingangsprüfung
Die mechanische Wareneingangsprüfung dient der schnellen Überprüfung der eingehenden Werkstoffe auf Qualität. Konventionell wird dafür eine Härteprüfung durchgeführt. Stähle, die sich nur durch den Wert der Dehngrenze unterscheiden und dieselbe Zugfestigkeit aufweisen, können bei der Härteprüfung nicht unterschieden werden. Es besteht somit ein Risiko der Verwechslungsgefahr durch die Anzahl ähnlicher Legierungen. Eine Werkstoffverwechslung kann im späteren Festigungsprozess zu Ausschüssen führen. Ein Zugversuch kann aufgrund der aufwendigen Probenvorbereitung und der zerstörenden Prüfung nicht durchgeführt werden. Das Eindruckverfahren bietet den Mehrwert der Ermittlung der 0,2%-Dehngrenze. Dadurch kann bei der Prüfung ein deutlicher Unterschied der Dehngrenze festgestellt (Abb. 2) und das Risiko einer Werkstoffverwechslung vermieden werden. Kosten durch spätere Ausschüsse und Schadensfälle werden eingespart.
Anwendungsfall 2: Echte und lokale Bauteilprüfung an kleinen Bauteilen und dünnen Blechen
Bei der Blechmassiv- und Massivumformung werden oftmals sehr kleine Bauteile hergestellt, die durch die gängigen Verfahren wie Stauchversuch oder Zugversuch nicht charakterisiert werden können. Teilweise muss dann auf Vorstufen des Umformprozesses zurückgegriffen werden, um Prüflinge in handhabbarer Größe zu erhalten. Dies kann allerdings zur Ermittlung abweichender mechanischer Eigenschaften zu den tatsächlichen führen. Hinzu kommt, dass das geprüfte Material nach der Prüfung nicht mehr verwendet werden kann.
Der Vorteil des Eindruckverfahrens besteht darin, dass sich mit einer Last von 50N je nach Material Eindrücke mit einem Durchmesser von ca. 0,4 bis 1,2 mm realisieren lassen. Die Eindringtiefen liegen dabei bei 10 bis 100 µm, somit können auch dünne Bleche geprüft werden. Durch die geringe Anforderung an die Oberflächenbeschaffenheit kann die Prüfung direkt am fertigen Bauteil durchgeführt werden. Da das Verfahren zerstörungsarm arbeitet können die Bauteile in den meisten Fällen auch nach der Prüfung weiterverwendet werden. Daraus resultieren erhebliche Einsparungen in der Produktion.
Anwendungsfall 3: Detailanalyse bei Wärmebehandlungen am Beispiel Tailored Tempering
Im Bereich der Fertigung von gewichtsreduzierten und sicherheitsrelevanten Blechbauteilen wird das Tailored Tempering immer beliebter. Neben festen martensitischen Bereichen können auch weiche und duktile Zonen eingestellt werden, dies wird durch eine lokal begrenzte Wärmebehandlung erreicht. Die Werkstoffprüfung dieser pressgehärteten Blechteile nimmt eine wesentliche Rolle ein. Das Eindruckverfahren bietet hier die Möglichkeit zerstörungsarm Fließkurven über den gesamten Bereich der Blechbauteile aufzunehmen. Dadurch kann der Wärmebehandlungsprozess anschließend überprüft werden. Zusätzlich können die Datenpunkte der Fließkurven in FEM-Simulationen verwenden werden, um den Prozess weiter zu optimieren. Durch die Optimierung lassen sich Kosten durch mögliche Schadensfälle aufgrund von unzureichender Wärmebehandlung minimieren.
Kompaktgerät zur Qualitätssicherung im Wareneingang und in der Produktion
Zur Prüfung des Eindruckverfahrens nach DIN SPEC 4864 hat die Imprintec GmbH das Kompaktgerät i3D WLI entwickelt. Das Gerät wird mit den Standardmaßen von 555 x 381 x 531 mm (L x B x H) und integriertem PC mit Prüfsoftware ausgeliefert. Für eine einfache vollautomatisierte Prüfung lassen sich optional ein motorisierter Kreuztisch und eine Übersichtskamera verbauen.
Prüfgenauigkeit am Beispiel der Prüfung von Stahlwerkstoffen
Die Vergleichbarkeit zum Zugversuch liegt bei einer mittleren Abweichung von 2,4% bei der Zugfestigkeit Rm und 4,5% bei der 0,2%-Dehngrenze Rp0,2. Bei geringen Prüflasten (5 kg) liegen die Genauigkeiten aufgrund der lokalen Prüfung im Schnitt bei Abweichungen von 2,8% zur Zugfestigkeit Rm und 6,8% zur 0,2%-Dehngrenze Rp0,2.* Einschränkungen in der Genauigkeit gibt es bei hochlegierten Stählen mit austenitischem Gefüge.
* Basierend auf einer Analyse von ca. 200 Proben aus 48 verschiedenen Stahllegierungen. Dabei wurde jeweils ein Zugversuch mit dem Mittelwert der Messung von 5 Prüfeindrücken nach DIN SPEC 4864 verglichen.
[1] DIN SPEC 4864, November 2019, Beuth Verlag, www.beuth.de/[…]/din-spec-4864/