Als Betreiber eines in Lingen ansässigen Elektrostahlwerks ist Benteler hinsichtlich des Megathemas Dekarbonisierung sprichwörtlich am Puls des politischen Willens. Warum „grüne Rohre“ für Automobilhersteller immer wichtiger werden, vor welchen konkreten Aufgaben und Herausforderungen sein Haus steht und wie hoch der ungefähre Aufpreis für grüne Rohre gegenüber konventionellen ist, verrät Thomas Begemann, Leiter des Nachhaltigkeitsprogramms bei Benteler, im Interview mit stahl+eisen-Chefredakteur Torsten Paßmann.
Das Interview stammt aus Ausgabe 6/22 von stahl + eisen. Gesprächspartner ist Thomas Begemann, Direktor Strategie/Kommunikation und Projektmanagement bei Benteler Steel/Tube. Zudem leitet er das Nachhaltigkeitsprogramm „Grüne Rohre“ im Unternehmen. Er hat Wirtschaftsingenieurwesen mit der Fachrichtung Maschinenbau an der der Universität Paderborn sowie an der Macquarie University in Sydney studiert.
stahl + eisen: Als Betreiber eines Elektrostahlwerks in Lingen sollte Ihr Haus in der derzeitigen Debatte rund um die Dekarbonisierung eigentlich recht positiv wahrgenommen werden. Wie ist die Lage?
Begemann: Grundsätzlich ist das richtig, auch wenn der Weg zur vollständigen Dekarbonisierung auch für uns eine unternehmerische Herausforderung darstellt. Wir haben allerdings eine hervorragende Ausgangssituation. In unserem Elektrostahlwerk in Lingen erschmelzen wir aus 100% recyceltem Schrott Stahl für unserer eigene Rohrproduktion und für externe Kunden. Durch die Kreislaufwirtschaft ist der Prozess mit wesentlich geringeren Emissionen belastet als die Stahlherstellung im konventionellen Hochofen, bei der Kokskohle verbrannt wird. Das macht sich in unserem CO2-Fußabdruck bemerkbar, der bereits heute um über 90% geringer ist als bei vergleichbarem Stahl aus der Hochofenroute.
stahl + eisen: Für das Fernziel der Klimaneutralität sind Ihre Emissionen immer noch über dem Idealwert. Was strebt Benteler konkret für den Konzernbereich Stahl an?
Begemann: Wir haben uns das Ziel gesetzt, bis 2045 CO2-neutral zu werden. So helfen wir dabei, Klimaschutz und Mobilität besser miteinander zu vereinbaren und unterstützen zugleich unsere Kunden, ihre eigenen Klimaziele zu erreichen. Dafür werden wir in einem ersten Schritt unsere Emissionen bis 2030 halbieren. Konkret bedeutet das, dass wir in unseren direkten und indirekten Emissionen, also Scope 1 und 2, CO2 neutral werden und die Emissionen auf der Beschaffungsseite, sprich Scope 3, um 30% reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ein umfangreiches Transformationsprogramm gestartet. Wir dekarbonisieren die gesamte Wertschöpfungskette von der Stahlerzeugung bis zum nahtlosen beziehungsweise geschweißten Rohr.
„Die ausreichende Versorgung mit Strom aus regenerativen Energiequellen ist erfolgskritisch“
stahl + eisen: Die stabile Versorgung mit erneuerbaren Energien ist für Sie ein elementarer Punkt. Wie sieht es mit Ihrem Bedarf aus?
Begemann: Wir gehören mit unserem Elektrostahlwerk, aber auch mit unseren Warmrohrwerken zur energieintensiven Industrie. Die ausreichende Versorgung mit Strom aus regenerativen Energiequellen zu wettbewerbsfähigen Preisen ist dabei erfolgskritisch. Und das in mindestens zweifacher Hinsicht: Zum einen werden wir unsere Werke auf grünen Strom umstellen, zum anderen benötigen wir grünen Wasserstoff, um unsere gasbetriebenen Wärmeaggregate durch klimafreundlichere „H2 Ready Brenner“ zu ersetzten. Der dafür notwendige grüne Wasserstoff wird wiederum durch grünen Strom hergestellt. In Summe bedeutet dies, dass unser eigener, aber auch der Gesamtbedarf an grünem Strom in den nächsten Jahren enorm steigen wird.
stahl + eisen: Was können Sie selber machen und was brauchen Sie von außen?
Begemann: Wir prüfen gerade verschiedene Möglichkeiten, Strom selbst herzustellen, zum Beispiel indem wir flächendeckend Solaranlagen installieren. Eine erste Analyse hat jedoch ergeben, dass wir damit lediglich einen Bruchteil der benötigten Energie decken würden. Wir sind also auf die Politik und die Energieversorger angewiesen. Die Transformation wird nur gelingen, wenn wir ausreichend Strom aus regenerativen Quellen und grünen Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung haben. Experten gehen davon aus, dass wir bis 2045 400 bis 650 Gigawatt installierte Kapazität an erneuerbaren Energien benötigen. 2021 waren es gerade einmal 140 Gigawatt. Beim Wasserstoff kommt noch das Problem der Infrastruktur hinzu. Optimalerweise wird Wasserstoff dort hergestellt, wo ausreichend grüner Strom vorhanden ist. Das ist oft an den Küsten der Fall.
Anschließend könnte er durch ein Transmissionsnetz über lange Strecken transportiert werden. Derzeit ist jedoch noch völlig unklar, welche Regionen künftig an ein solches Pipeline-Netz angeschlossen werden. Und genau das stellt für viele Unternehmen ein Problem dar. Ein einziger Drehherdofen, eines von zahlreichen Aggregaten zur Erwärmung und Umformung von Stahl in der Rohrproduktion, benötigt beispielsweise über sechs Tonnen Wasserstoff am Tag.
Tiefziehschrott als „optimale Vormaterial“
stahl + eisen: Ein Elektrostahlwerk lässt sich nicht nur mit Schrott betreiben. Über welche Alternativen haben Sie grundsätzlich nachgedacht?
Begemann: Nach unserem Verständnis ist Schrott, insbesondere Tiefziehschrott unter Prozess-, Kosten- und CO2-Gesichtspunkten aktuell das optimale Vormaterial für unsere Stahlproduktion: Er ist in ausreichender Menge in guten Qualitäten verfügbar und hat aufgrund seiner Recyclingfähigkeit einen konkurrenzlosen CO2-Rucksack. Richtig ist aber auch, dass wir insbesondere in den vergangenen Monaten massive Preissteigerungen erlebt haben. Im Vergleich zu 2020 ist der Preis um das eineinhalbfache gestiegen. Politische Instabilitäten, Lokalisierungstendenzen der Automobilindustrie, aber auch die Klimaziele der einzelnen Länder führen dazu, dass das Angebot in den nächsten Jahren weiter sinken und die Nachfrage steigen wird. Eine ergänzende Vormaterialbasis gewinnt somit an Bedeutung – etwa Eisenschwamm, der ähnlich gute mineralogische Eigenschaften wie Schrott besitzt. Wenn er dann noch mit grünem Wasserstoff statt Gas hergestellt wird, ist auch der CO2-Fußabdruck optimal.
stahl + eisen: Ziehen Sie diese Alternative kurz- bis mittelfristig ernsthaft in Erwägung? Und haben Sie diesbezüglich schon praktische Erfahrungen gesammelt?
Begemann: Der Einsatz von Eisenschwamm ist für uns ein realistisches Szenario. Deshalb haben wir auch ein gemeinsames Projekt mit RWE und CO2Grab zur Erzeugung und Verarbeitung von grünem Eisenschwamm gestartet. Die Demonstrationsanlage soll noch 2022 aufgebaut werden. Der produzierte Eisenschwamm wird dann in unserem Stahlwerk in Lingen eingeschmolzen. Nach erfolgreicher Testphase planen wir den Aufbau eines Reallabors.
stahl + eisen: Ein Teilsegment im Rohrmarkt sind geschweißte Rohre. Wie entwickelt sich hier der Bedarf nach grünen Produkten?
Begemann: Hauptabnehmer unserer geschweißten Rohrlösungen ist die Automobilindustrie. Hier findet gerade ein massiver Wandel vom Verbrenner zum Elektrofahrzeug statt. Das bedeutet, dass über den Lebenszyklus eines Fahrzeuges der Großteil der Emissionen nicht mehr während der Nutzungsphase, sondern in der Produktion anfällt. Die in einem Fahrzeug verbauten Bauteile und Komponenten kommen oft von Zulieferern wie Benteler. Damit die OEMs ihre Klimaziele erreichen, müssen diese Kaufteile einen möglichst geringen CO2-Rucksack haben. Die Nachfrage nach unseren CO2-reduzierten Rohrlösungen entwickelt sich auch aus diesem Grund gerade sehr positiv.
stahl + eisen: Für die Herstellung sind Sie auch auf andere Hersteller angewiesen. Wie sieht die Liefersituation mit klimafreundlichem Material aus? Was planen Sie als eigene Maßnahmen?
Begemann: Der in unserem Elektrostahlwerk produzierte Stahl wird bereits zum Großteil für die Versorgung unserer Rohrwerke verwendet. Insbesondere unsere nahtlosen Rohre profitieren davon und haben heute schon einen um ca. 70% reduzierten CO2-Fußabdruck gegenüber vergleichbaren Produkten, die auf Basis der Hochofenroute hergestellt werden. Bei den geschweißten Rohren wird aktuell Bandstahl aus der Hochofenroute eingesetzt. Dementsprechend ist der CO2-Fußabdruck relativ hoch. Aber hier liegt auch enormes Potenzial für uns. Wir prüfen derzeit Möglichkeiten, wie wir gemeinsam mit Partnern Bandstahl aus unserem Lingen-Stahl produzieren könnten. Durch den vermehrten Einsatz von Elektrostahl aus unserem Stahlwerk in Lingen werden wir auch den CO2-Fußabdruck unserer geschweißten Rohre massiv senken – und zwar um über 70%. Durch weitere Maßnahmen wie die Nutzung von grünem Strom können wir unsere CO2-Emissionen weiter reduzieren.
stahl + eisen: Wie schätzen Sie hier den Wettbewerb ein?
Begemann: Auch hier haben wir eine sehr gute Ausgangssituation. Als einer der wenigen Hersteller von geschweißten Stahlrohren mit eigenem Elektrostahlwerk in Europa bilden wir den Großteil der Wertschöpfungskette, von der CO2 reduzierten Stahlproduktion bis zum angearbeiteten geschweißten Rohr, im eigenen Hause ab. Importe, zum Beispiel aus Asien, machen aus Klimagesichtspunkten wenig Sinn. Darüber hinaus zeigt die aktuelle weltwirtschaftliche Situation, wie anfällig unsere globalen Lieferketten sind.
stahl + eisen: Ohne die betriebswirtschaftliche Rechnung Ihres Hauses zu kennen: Konventionelle Rohre dürften günstiger sein als grüne Rohre. Von was für einem (relativen) Aufschlag reden wir? Wie sieht die Bereitschaft des Marktes aus, den Aufpreis zu tragen?
Begemann: Eine pauschale Aussage hierzu zu treffen ist schwierig. Der Preis für unsere Rohre setzt sich aus vielen Komponenten zusammen, wie zum Beispiel der Wertschöpfungstiefe, der Abmessung oder dem eingesetzten Werkstoff. Bei der jetzigen Marktsituation gehen wir davon aus, dass ein „grün gestelltes“ geschweißtes Rohr ca. 30% teurer ist als ein konventionell gefertigtes Rohr. Diese Mehrkosten relativieren sich jedoch schnell, wenn der Gesetzgeber zu seinen Nachhaltigkeitszielen steht.
stahl + eisen: Zum Abschluss noch ein Blick in die nähere Zukunft: Was werden im Idealfall die nächsten zwei, drei Erfolgsmeldungen von Benteler zum Thema grüne Rohre bzw. Dekarbonisierung sein?
Begemann: In Rahmen unseres Transformationsprogrammes „Grüne Rohre“ haben wir in diesem Jahr einige wichtige Meilensteine. Ich freue mich besonders darüber, dass wir im dritten Quartal eine ganze Reihe von Zertifizierungen abgeschlossen haben werden und wir unseren Kunden Product Carbon Footprints für unsere CO2-reduzierten nahtlosen Rohre und unseren Stahl anbieten können. Mit Hilfe dieses Nachweises über die Klimawirkung eines Produkts unterstützen wir unsere Kunden bei der Umsetzung ihrer CO2-Strategien. Darüber hinaus sind wir sehr zuversichtlich, dass wir noch in diesem Jahr das erste CO2-reduzierte geschweißte Rohr aus dem Hause Benteler anbieten werden.
stahl + eisen: Herzlichen Dank für den Austausch!
Weitere Beiträge über bzw. zu Benteler finden Sie > hier.