Ursprünglich waren digitale Währungen – allen voran Bitcoin – nur ein Thema für IT-Cracks. Seit das Thema auch in den Publikumsmedien gelandet ist, ist auch der Begriff der Blockchain sprichwörtlich in aller Munde. Ihre Wurzeln hat die Technologie in einem Whitepaper, das vor über zehn Jahren die technischen Grundlagen beschrieb, darunter explizit die Distributed-Ledger-Technologie. Zwei unserer drei Gastautoren kommen von PSI Metals, einem Softwareanbieter für das Produktionsmanagement in der Metallindustrie, und in ihrem Beitrag gehen sie insbesondere drei Fragen nach: Wo stehen wir heute? Was ist aus dem vorhergesagten Potenzial der Technologie geworden? Und nicht zuletzt: Welche Anwendungsfälle gibt es in Produktion und Logistik?
Der Beitrag stammt ursprünglich aus der Titelstrecke der Ausgabe 6/22 von stahl + eisen zum Thema Digitalisierung. Fachautoren sind Karl Tröger, Business Development Manager bei PSI Automotive & Industry; Dr. Joachim Gnauk.,PSI Metals; Roman Markus Holler, PSI Metals Austria.
Für das Privatleben verspricht die Blockchain eine Welt ohne Notare, Vermittler oder Kontrollinstanzen. Für das Geschäftsleben öffnet sich durch sie die Chance auf neue Geschäftsmodelle. Der Kern: sichere und transparente Abläufe durch die Wissen, Werte oder sogar Software manipulationssicher im Netz hinterlegt werden. Diese Vision zeigt, wie weit die Strukturen und Grundprinzipien der heutigen betriebswirtschaftlichen Anwendungen noch von der Blockchain-Technologie entfernt sind.
Herausforderung für Legacy-Systeme
Während die Möglichkeiten der neuen Technik klar sind (siehe auch Hintergrund „Funktionsweise der Blockchain”), ist ihre Nutzung in einem von Legacy-Systemen geprägten Umfeld nicht ohne weiteres möglich. Denn moderne Komponenten wie zum Beispiel KI-Anwendungen oder eben Blockchain-Techniken lassen sich nicht in den Code monolithisch strukturierter Systeme integrieren. Eine Verbindung ist allenfalls über aufwendige Schnittstellen möglich, die wiederum in den meisten Fällen einer umfassenden Nutzung entgegenstehen. Dies gilt auch für die Mehrheit aller weiteren Sektoren in Deutschland. So stellt der Branchenverband Bitkom in einer Blockchain-Studie aus dem Jahr 2019 fest, dass deutsche Manager mehrheitlich Blockchain zwar für zukunftsweisend halten, aber nur zwei Prozent die Technologie bereits nutzen.
Mehr als 50 Prozent der Unternehmen haben sich noch nicht einmal damit beschäftigt. 80 Prozent sehen keinen Anwendungsfall für sich. Das ist im Ausland anders: In Italien etwa wird die Technologie für die Vernetzung von Banken eingesetzt, in Dänemark gibt es Projekte in der Logistik. In Indien wird Blockchain als Zukunftstechnologie besonders gefördert.
Blockchain in Deutschland?
Was ist also zu tun in Deutschland? Besteht überhaupt Handlungsbedarf? Unbedingt. Gerade weil sich an der Erkenntnis hinsichtlich ihrer Potenziale nichts geändert hat. Im Gegenteil: Die Technologie hat das Zeug zu einem echten Gamechanger – angefangen von Smart Contracts bis hin zu Softwarelösungen in kritischen Infrastrukturen. Und dazu muss sie sich verbreiten. Das hat auch die deutsche Bundesregierung erkannt und in einem Blockchain-Strategiepapier einen Kurs vorgegeben – über 44 aufgelistete Maßnahmen inklusive. So bleibt die Hoffnung, dass das Papier tatsächlich in den verschiedenen Ministerien ankommt, die längst überfällige Aktivitäten initiieren und dann konsequent vorantreiben. Handlungsbedarf sieht auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Er hat im Juli 2021 ein Gremium zur Verbreitung der Blockchain-Technologie bei den Mitgliedsunternehmen gegründet.
Vorrangiges Ziel dabei sind konkrete Anwendungsmöglichkeiten zu finden. Aus der Perspektive des Maschinen- und Anlagenbaus unterstützt die Blockchain-Technologie heutige Ansätze im Umfeld der Plattformökonomie oder gibt dem Einsatz von vertrauenswürdigen Workflow-Techniken Vorschub. Generell geht es immer darum, nachvollziehbare und manipulationssichere Transaktionen zu unterstützen. Dies wiederum entspricht der Grundidee der Blockchain-Technologie.
Blockchain vor dem Hintergrund aktueller Krisen
Wie groß der Handlungsbedarf nicht nur in Hinblick auf potenzielle Chancen ist, wurde der Wirtschaft schließlich schmerzhaft durch die Corona-Pandemie und den auch im Cyberspace stattfindenden Krieg in der Ukraine vor Augen geführt. So haben Themen wie Digitalisierung im Allgemeinen und Lieferkettenmanagement und Datensicherheit im Besonderen innerhalb kürzester Zeit eine ganz andere Bedeutung bekommen. Sie haben sich von einem „Nice-to-have“ (mit dem Maßstab eines industriellen Zyklus) zu einem „Must-have” in nahezu jeder Industrie gewandelt. So hat sich herausgestellt, dass die industrielle Produktion extrem anfällig gegenüber Störungen in den Lieferketten ist. Chipmangel oder nicht verfügbare Seefracht-Container sind nur zwei prominente Beispiele, die es dem produzierenden Gewerbe schwer machen, seine Ziele zu erreichen. Stark zunehmende Hackerangriffe auf kritische Infrastruktur, zu der als Zulieferer der Verteidigungsindustrie auch Stahlhersteller gehören, haben in den vergangenen Wochen bereits einige Schäden angerichtet. Die folgerichtige Frage muss daher lauten, ob wir in der Vergangenheit einfach nur Glück hatten, dass alles so reibungslos funktionierte.
Automatisierte, schnelle und sichere Transaktionen
Fest steht: Die Herausforderungen der Zukunft müssen besser gemeistert werden. Die zentralen Erfolgsfaktoren sind: die Geschwindigkeit und die Automatisierung von Geschäftsprozessen. Mit ihnen gehen aber eben erhöhte Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit und Sicherheit von Transaktionen zwischen Geschäftspartnern einher – automatische Transaktionen wohlgemerkt. Unter diesen Gesichtspunkten wird die Verbreitung der Blockchain-Technologie einen neuen Auftrieb bekommen. Die Welt ist jedenfalls mental vorbereitet auf Smart Contracts und automatisches Lieferkettenmanagement. Erstere werden vor allem im Umfeld des Internet-of-Things (IoT) oder Finanztransaktionen und damit verbundenen Applikationen eine Rolle spielen. Hier, ebenso wie bei digitalisierten, automatisierten Geschäftsprozessen ist ein hohes Level der Transaktionssicherheit gefordert. Im Lieferkettenmanagement wird diese durch verteilte Konsensbildung und Irreversibilität innerhalb der Blockchain gewährleistet.
Vertrauen in grünen Stahl wird gestärkt
Digitale Lieferketten werden nach dem Motto „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ entworfen. Allerdings genießen viele etablierte Unternehmen bereits einen guten Ruf und sehen keinen Grund, ihr Vertrauen durch futuristische Technologien weiter zu festigen. Jedoch erschwert diese Technologie das Fälschen von Produkten erheblich und ist somit auch für namhafte Unternehmen relevant. Ermöglicht wird dies durch eine einzigartige Digitale Identität für jedes erzeugte Produkt. Digitale Identitäten ermöglichen die Speicherung von zusätzlichen relevanten Daten. So können beispielsweise CO2-Emissionen während der Produktion aufgezeichnet und zugeordnet werden, wodurch Grüner Stahl erstmals aufgrund der Nachverfolgbarkeit von konventionellem kohlenstoffreduzierten Stahl unterschieden werden kann. Das Produktzertifikat enthält eine detaillierte Auflistung der Materialtransformationen und der eingesetzten Energieträger, dessen Herkunft genauso relevant ist, da auch für die Erzeugung von Wasserstoff je nach Herstellungsverfahren unterschiedliche Mengen an CO2 freigesetzt werden.
Das Unternehmen S1Seven aus Wien arbeitet intensiv an Lösungen zu Digitalen Identitäten und der Nachverfolgung von CO2-Emissionen in der Lieferkette, um beispielsweise den Produktabnehmern die Scope 3-Bilanzierung zu erleichtern. Dieses CO2-Tracking ermöglicht auch einen einfacheren Umgang mit der geplanten CO2-Besteuerung innerhalb der EU. Im Falle einer Reklamation ist das nachträgliche Abändern von Prüfzeugnissen oder anderen Dokumenten durch den Produzenten unmöglich, wenn Distributed-Ledger-Technologien zum Einsatz kommen. Somit trägt diese Technologie selbst im Streitfall zu einer ganz neuartigen Vertrauensbasis bei.
Prüfbescheinigungen ohne Werkstoffprüfung
Die vor kurzem veröffentlichte Norm DIN EN 10373 ermöglicht es Produzenten, Produkte zu zertifizieren und zu verkaufen, ohne eine stichprobenartige zerstörende Werkstoffprüfung durchzuführen. Ermöglicht wird dies durch einen vorgeschriebenen Prozess, wie Qualitätsdaten von der Produktionssensorik abgeleitet und berechnet werden dürfen. Solche Berechnungen eröffnen eine Vielzahl neuer Optimierungsmöglichkeiten und können die Produktionseffizienz erheblich steigern. Zero-Knowledge-Technologien harmonieren wunderbar mit dieser Norm. Sensible Sensordaten aus der Produktion werden geheim gehalten, während diese mittels kryptograf ischer Verfahren mit den berechneten Qualitätsdaten verlinkt werden. Das Verfahren lässt Transparenz und Privatsphäre miteinander verschmelzen, ohne Kompromisse einzugehen.
Fazit und Ausblick
Noch ist die Blockchain in Deutschland nicht vollends angekommen. Inzwischen ist jedoch zu erwarten, dass durch den Einsatz der Technologie neue Geschäftsmodelle und stabilere Lieferbeziehungen und vor allem eine größere Agilität in der Geschäftstätigkeit entstehen werden. Damit das angestrebte „Next Level” im Supply Chain Management in Reichweite kommt, ist zunächst die Stagnation bei der Entwicklung und Umsetzung von Blockchain-Anwendungsfällen zu überwinden.