Die politische Diskussion räumt der Dekarbonisierung der Industrie immer breiteren Raum ein. Ein ambitioniertes Ziel ist etwa, Märkte für klimafreundliche Grundstoffe und insbesondere auch Stahl zu schaffen. Dr. Martin Theuringer, der sich als Geschäftsführer der WV Stahl für die wirtschaftlichen Belange der Branche einsetzt, erläutert, worauf es bei sogenannten „Grünen Leitmärkten“ ankommen muss.
Der Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe 07/2022 unserer Fachzeitschrift stahlmarkt. Bestellmöglichkeiten finden Sie in unserem Shop.
Die Stahlindustrie ist auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität. Durch die Umstellung von Prozessen mit hohen CO2-Emissionen und mit Hilfe einer effizienten Kreislaufwirtschaft kann, will und muss die Branche bis zur Mitte des Jahrhunderts nahezu emissionsfrei produzieren. Die technologischen Herausforderungen sind groß, aber machbar. Auf der anderen Seite steht die Frage, wie erreicht werden kann, dass der in der Herstellung absehbar deutlich teurere grüne Stahl den Weg in die Anwendung findet.
Grüner Stahl macht Wertschöpfungsketten grün
An dieser Stelle kommt das Instrument „Grüne Leitmärkte“ ins Spiel. Ziel ist, mit Hilfe von regulatorischen Maßnahmen die Nachfrage nach klimafreundlichem Stahl zu stärken beziehungsweise Absatzmärkte zu etablieren, auf denen ein sogenanntes Green-Premium erzielt werden kann. Damit wiederum können die Mehrkosten der Umstellung auf klimafreundliche Verfahren ausgeglichen werden. Die in Klimaschutzverträgen vereinbarten staatlichen Ausgleichszahlungen würden entsprechend reduziert.
Als Leitmärkte für grünen Stahl eignen sich beispielsweise das öffentliche Beschaffungswesen und jene Abnehmersegmente, in denen bereits heute ein hoher Druck besteht, Vorkettenemissionen zu reduzieren. Leitmärkte stellen eine Brücke dar, bis sich klimaneutrale Grundstoffe in voller Breite durchgesetzt haben. Dazu braucht es für Verwender und Abnehmer verbindliche Anreize, sei es in Form von Mindeststandards, Prämienmodellen oder gezielten Anrechnungsmöglichkeiten, etwa im Bereich der politischen Sektorkopplung.
Der Effekt von grünem Stahl auf die Anwenderindustrien ist groß, die Kosten im Verhältnis zum Endprodukt dagegen klein. So lassen sich beispielsweise bei einem E-Auto allein durch den Einsatz von klimaneutral hergestelltem Stahl 16 Prozent der produktionsbedingten Gesamtemissionen reduzieren – und das bei einem Kostenanstieg für Endverbraucher von deutlich unter einem Prozent. Die Finanzierung von grünem Stahl über den Markt ist somit volkswirtschaftlich geboten. Dafür muss nun der entsprechende Rahmen geschaffen werden.
Im Zentrum steht klare Definition von grünem Stahl
Märkte für klimafreundliche Produkte können sich nur dann entwickeln, wenn sie auf klaren Definitionen aufbauen. Zentral ist insbesondere, dass für jeden Abnehmer erkennbar sein muss, welche CO2-Emissionen in einem Stahlfertigprodukt enthalten sind. Ist eine solche Transparenz gegeben, können diese Informationen in Beschaffungsstrategien zur Reduktion der Scope-3 Emissionen, also der indirekten Emissionen in der Lieferkette, verwendet werden. Produkte mit niedrigem CO2-Gehalt erhalten so Wettbewerbsvorteile gegenüber solchen mit hoher Emissionsintensität. Wichtig ist, dass in die CO2-Footprints die Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette eingehen, der Bilanzraum klar bestimmt ist und die Emissionen nach den gleichen Regeln berechnet werden. Ein dafür notwendiges, einheitliches Rule-Book liegt bislang jedoch noch nicht vor.
Für die Steuerung und Implementierung von grünen Leitmärkten reicht die Augenblicksbetrachtung eines Footprints jedoch nicht aus, um den Prozess zur Dekarbonisierung der Stahlproduktion gezielt anzureizen. Zusätzlich muss auch dem stufenförmigen Transformationsprozess der Branche Rechnung getragen werden: Zum einen wird reiner grüner Stahl physisch nicht zur Verfügung stehen, solange nicht ausreichende Mengen an grünem Wasserstoff vorhanden sind. Anfänglich wird Erdgas als Brücke eine entscheidende Rolle beim Betrieb der ersten Reduktionsanlagen spielen, mit wachsenden H2-Anteilen im Zuge des Hochlaufs der Wasserstoffwirtschaft. Auch werden Standorte zunächst nur teiltransformiert. Im Bereich des schon klimaschonend produzierten Sekundärstahls hängen weitere CO2-Reduktionen entscheidend von der Verfügbarkeit von grünem Strom ab, dessen Einsatz ebenso mit Mehrkosten verbunden ist. Für die Weiterverarbeitung sind Wasserstoff und grüner Strom gleichermaßen entscheidend.
WV Stahl schlägt Kategorisierungsystem vor
Um die verschiedenen Formen von klimafreundlich hergestelltem Stahl im Zeitablauf abzubilden, bietet sich ein Kategorisierungssystem an, wie es auch aus anderen Bereichen, etwa den Haushaltsgeräten, in Form eines Energielabels bekannt ist. Das primäre Ziel ist hier allerdings die unmittelbare Anbindung an die Leitmarktkonzeption: Unternehmen, die substantielle transformative Schritte unternehmen, können belohnt werden, wenn sie hierdurch eine Einordnung in eine Kategorie erreichen, die sie für Leitmärkte qualifiziert, auf denen grüne Prämien erzielt werden können.
Die Wirtschaftsvereinigung Stahl hat hierzu ein fünfstufiges System vorgeschlagen: Um es handhabbar zu halten, reicht die Systemgrenze nicht über den warmgewalzten Stahl hinaus. Die erste Ambitionsstufe ist das Label D, das sich an der State-of-the-Art Technologie orientiert. Die Label-Stufe A ist dem nahezu klimaneutral hergestellten, grünen Stahl vorbehalten. Zwischenstufen werden technologieoffen festgelegt und sind so ambitioniert, dass es erhebliche Anstrengungen bedarf, die jeweils nächst höhere zu erreichen.
Ein solches System wäre eine gute Grundlage, um Leitmärkte in der Praxis zu steuern. So könnten zum Beispiel Vorgaben gemacht werden, dass etwa bei öffentlichen Bauprodukten ab einem bestimmten Zeitpunkt mindestens eine bestimmte Menge an Kategorie C-Stahl verwendet werden müsste. Im Zeitverlauf, mit zunehmendem Hochlauf von Wasserstoff und voranschreitender Energiewende, werden die Leitmarktanforderungen, also die zu erreichende Kategorie, verschärft und so Anreize zu weiteren Transformationsschritten geschaffen. Auch können anhand des Label-Systems Zwischenziele definiert werden, mit denen sich der Erfolg der Transformation und des Hochlaufprozesses nachvollziehen und entsprechend steuern lässt.
Bei der Ausgestaltung ist darauf zu achten, dass auch der Einsatz von Stahlschrott berücksichtigt wird: Denn seine Verfügbarkeit ist weltweit begrenzt und sofern vorhanden wird er vollständig verwendet. Durch die Substitution von Roheisen durch Schrott kann ein Stahlhersteller somit zwar seinen individuellen CO2-Fussabdruck senken. Die CO2-Emissionen im Gesamtsystem bleiben davon jedoch unberührt. Daher sollten nur „echte“ transformative Schritte, die auch zu CO2-Emissionsenkungen im Gesamtsystem führen, im Labelsystem belohnt werden. Mit anderen Worten: Es müssen auch Anreize zur Transformation des Primärstahls geschaffen werden. Zugleich ist sicherzustellen, dass Hersteller, die bereits heute nahezu 100 Prozent Schrott einsetzen und somit schon klimafreundlich produzieren, keine Nachteile erleiden.